Vergütung Physiotherapie - Statement zum Vorschlag des Schweizer Bundesrates

Auch in der Schweiz ist der Beruf des Physiotherapeuten nicht auf Rosen gebettet. Aktuell sorgt eine Änderung der Vergütung für Unmut. Was denken die Schweizer Therapeuten, welche Probleme sehen sie auf den Beruf zukommen? Ein Blick über die Grenze und auf das aktuelle Statement von Pascale Gränicher und David Schmidt von Science2practice.

Etwa 20 % der Schweizer Bevölkerung werden mindestens einmal jährlich von ärztlicher Seite in die physiotherapeutische Behandlung überwiesen. (1) Trotzdem machen diese Therapien nur ca. 3,6 % der Gesamtkosten im Schweizer Gesundheitssystem aus.

Interessanterweise liegt der Anteil der Krankenkassenadministration mit 5 % an den Gesamtkosten sogar ca. 40 % höher, als die Kosten für Physiotherapie in der Schweiz. “Natürlich” wird von entsprechender Seite im gleichen Atemzug darauf hingewiesen, dass solch ein kleiner Prozentsatz keine Auswirkungen auf die Versichertenprämien hätte. (2)

Schwer verständlich wird es aber, dass vonseiten der Kostenträger und ihren politischen Unterstützern im Bundesrat, die 3,6 % der Physiotherapie gänzlich anders bewertet und ein ganzer Berufsstand aktiv bekämpft, diskreditiert und schlichtweg in seiner Existenz bedroht wird.

“Ist unsere Bewertung eine emotionale Überbewertung und Jammern auf hohem Niveau? Ganz klar: Nein!”

David Schmidt, Pascale Gränicher, science2practice GmbH

Die Fakten

  1. Keine Anpassung bzw. Erhöhung der Physiotherapietarife seit 1997. Das heißt, dass seit 26 Jahren steigende Kosten für Mieten, Nebenkosten, IT, Reinigung, Versicherungen etc. nicht im Ansatz ausgeglichen wurden. Das führt zu mittlerweile massiv gesunkenen Reallöhnen.
  2. Umsatz pro Stunde im Kanton Zürich: ca. 106,- CHF. Welcher Handwerker würde dafür auch nur einen Finger krumm machen? Wie sollen bei solch einem Umsatz die Fixkosten und ein fairer Lohn gezahlt werden, der auch nur auf ein Mindeste das vierjährige Fachhochschulstudium anerkennt? Keine Chance.
  3. Moderne Praxen brauchen Fläche und eine adäquate Ausstattung. Physiotherapie ist keine Massage auf Rezept oder anderes evidenzfernes Gefummel mittels widerlegter "Therapien", für die Zusatzversicherungen bis zu abenteuerliche 180,- CHF bezahlen. Physios geben Hilfe zur Selbsthilfe. Dafür braucht es moderne Trainingsgeräte und -flächen, um Alltagsbelastungen trainieren bzw. wiederzuerlangen zu können. Beides hat seinen Preis und wird immer teurer, wird aber seit 26 Jahren nicht ansatzweise monetär ausgeglichen.
  4. Steigende Kosten in der Physiotherapie sind politisch gewollt und Folge einer alternden Gesellschaft. Es ist vonseiten der Politik und Kostenträger gewollt, Spitalaufenthalte so kurz wie möglich zu halten. Das hat aber zur Folge, dass PatientInnen teilweise intensiver bzw. aufwändiger nachbehandelt werden müssen. Das führt unter anderem zu den kritisierten Kostensteigerungen in der Physiotherapie. Wir werden als Gesellschaft immer älter. Eine Folge unseres Wohlstandes und unserer guten medizinischen Versorgung über das ganze Leben hinweg. Allerdings bedeuten Ältere auch einen höheren medizinisch-therapeutischen Aufwand, vor dem wir uns keinesfalls verschließen dürfen. Jeder Mensch hat das Recht, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Einkommen bestmöglich versorgt zu werden. Das sind wir uns als Gesellschaft einfach schuldig.

Die Effekte moderner evidenzbasierter Physiotherapie

  • Physiotherapie ist Hilfe zur Selbsthilfe. Sie erlaubt den Erhalt der eigenen Mobilität und Selbstständigkeit. Das spart Geld und Ressourcen.
  • Physiotherapie schafft Lebensqualität. (3, 4) Sie lässt Menschen schneller wieder am sozialen und beruflichen Leben teilhaben.
  • Physiotherapie kompensiert. Politisch bewusst gewollte «blutige» Entlassungen aus Spitälern sind längst Alltag. Ambulant müssen diese aber aufgefangen werden. Die Physiotherapie ist dafür dann wieder gut genug.
  • Physiotherapie reduziert Behandlungskosten. (3)
  • Physiotherapie zögert Operationen hinaus und hilft, diese zum Teil zu verhindern.
  • Physiotherapie hat eine positive Wirkung auch bei schwer kranken Menschen. (3, 4)
  • Körperliches Training kann unter anderem die Überlebenswahrscheinlichkeit bei Krebserkrankungen erhöhen und die Gefahr von Metastasen reduzieren. Das ist therapeutischer Alltag in der Physiotherapie. Vergleichbare Effekte zeigen sich für Lungen- und Herzpatienten, sowie neurologisch erkrankte Personen.

Folgen für den Beruf und die Patienten, wenn der aktuelle Vorschlag des Bundesrates angenommen wird

  • PhysiotherapeutInnen verlassen den Beruf.
  • Physiotherapiepraxen gehen insolvent.
  • PatientInnen bekommen große Schwierigkeiten, in einem zumutbaren Zeitrahmen Therapeuten zu finden.
  • Operationserfolge sind gefährdet, wenn keine qualitative physiotherapeutische Nachsorge stattfindet.
  • Mehrkosten für das Gesundheitssystem und die Wirtschaft, infolge von Therapieverzögerungen bzw. Therapieausfällen und damit einhergehenden Heilungsverzögerungen.

Was wir fordern

  1. Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen Kostenträgern und Physioswiss.
     
  2. Die überfällige Anpassung der Taxpunkte für die Physiotherapie.
     
  3. Einführung eines Qualitätsmanagements zur Einhaltung leitliniengerechter Therapien.
     
  4. Keine zeitliche Vorgabe der Dauer einer Therapieeinheit.
     

Bildquelle Header: © science2practice GmbH
Textquellen:
1. Bundesamt für Statistik (abgerufen am 31.08.2023) https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitswesen/andere-leistungserbringer.html
2. Aschwanden, E. & Schäfer, F. (2023, 29. August). Gesundheitswesen: Curafutura-Präsident Konrad Graber kritisiert Kantone. Neue Zürcher Zeitung. https://www.nzz.ch/schweiz/alain-berset-soll-ins-trockene-bringen-was-er-noch-kann-ld.1753610?reduced=true
3. Ärzteblatt, D. Ä. G. R. D. (2017, 5. Juni). Prehabilitation: „Fit“ werden für eine Operation. Deutsches Ärzteblatt. https://www.aerzteblatt.de/archiv/189303/Prehabilitation-Fit-werden-fuer-eine-Operation
4. Steindorf, K., Schmidt, M. E. & Zimmer, P. (2018). Sport und Bewegung mit und nach Krebs – Wer profitiert, was ist gesichert? Deutsche Medizinische Wochenschrift.https://doi.org/10.1055/s-0043-106885

Der Autor

  • Jan Althoff

    Jan Althoff ist Physiotherapeut, hat einen M.Sc. in Neurorehabilitationsforschung und ist Auditor für Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen. Er sammelte Erfahrung in internationalen Projekten im Bereich Rehabilitation, Entwicklung und Aufbau von Rehaeinrichtungen, Aus- und Weiterbildung von Therapeuten.