Physiotherapie

Das muss sich in der neurologischen Physiotherapie ändern!

Wie sieht moderne, effektive und effiziente Physiotherapie in der Neurologie aus? Was gehört dazu, was nicht mehr? Im Interview mit Carlos González Blum erfahren wir mehr zur Akademisierung und zu den aktuellen Diskussionen in der neurologischen Physiotherapie.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Carlos González Blum hat sich als Physiotherapeut auf die Neurologie spezialisiert und ist zurzeit Doktorand an der Universität Osnabrück.
  • Er ist Befürworter der Modernisierung der Physiotherapieausbildung in Deutschland durch Akademisierung.
  • Seiner Meinung nach sollten Therapeuten ihre Therapiesitzungen so gestalten, dass sie für ihre Patienten bedeutungsvoll, herausfordernd und für ihre Teilhabe relevant sind.
  • Er fordert deutliche strukturelle Veränderungen im Gesundheitssystem Deutschlands, damit bewährte Therapieformen endlich anerkannt und finanziell unterstützt werden.

BODYMEDIA: Du hast Physiotherapie studiert, hast einen M. Sc. in Neurorehabilitation und schließt jetzt deine Promotion (Dr. phil.) ab. Du könntest überall in der Welt arbeiten – was zieht dich nach Deutschland?

Carlos González Blum: Dies war eine bewusste Entscheidung. Nach dem Abschluss des Physiotherapie-Studiums in Amsterdam, wo ich meine Frau kennenlernte, zogen wir zurück in ihre Stadt, das schöne Freiburg im Breisgau, Schwarzwald. Meine erste Stelle als Physiotherapeut habe ich in einem ambulanten Therapiezentrum in Waldkirch angetreten.

Parallel dazu bereitete ich mich intensiv auf das American (Texas) Board Exam for Physical Therapy vor, um eine Stelle an einer Einrichtung für Rehabilitation und Forschung von Hirnverletzungen in Houston, Texas antreten zu können. Während meines Studiums absolvierte ich hier zuvor eines meiner Praktika. Da ich den Job in Houston zugesagt hatte, war der Plan, zurück in die Vereinigten Staaten zu ziehen, wo ich viele Jahre meines Lebens verbrachte und wo auch meine Familie lebt. Aber während meiner Tätigkeit in Waldkirch hatte ich dort angeboten, ein Neurorehabilitationskonzept zu erstellen.

Dies war im Nachhinein ein Wendepunkt für mich, da das Projekt nicht nur erfolgreich, sondern auch fachlich und persönlich befriedigend war. Mir wurde auch klar, dass es noch viel zu tun gibt, um die Qualität der Neurorehabilitation in Deutschland zu verbessern. Ich habe die Entscheidung getroffen, dass ich gerne ein Teil davon sein würde, diese Veränderung voranzutreiben.

Aus den eineinhalb Jahren, die ich in Deutschland arbeiten wollte, sind also bisher 14 geworden. Natürlich haben mich noch einige andere Faktoren dazu bewogen, in Deutschland zu bleiben: die Lehre, die Teilnahme an interessanten Forschungsprojekten, meine Frau und unsere drei Kinder.

BODYMEDIA: Warum sollten Physiotherapeuten akademisch ausgebildet sein? Sind wir nicht vielleicht doch eher Handwerker?

Carlos González Blum: Viele Jahre lang konnte man unseren Beruf durch einen mehr oder weniger biomedizinischen Ansatz mit einem paternalistischen Versorgungsmodell charakterisieren, wobei Therapeuten meist Entscheidungen für ihre Patienten trafen. Die angebotenen Therapien erforderten relativ wenig Aktivität seitens des Patienten, dafür aber mehr manuellen Einsatz des Therapeuten. Das stelle ich mir vor, wenn ich das Wort „Handwerker“ höre.

Neben der Arbeit im Studiengang unterrichte ich auch in einer Berufsfachschule für Physiotherapie, wo viele der Dozierenden einen Bachelorabschluss haben. Ich bin direkt und intensiv daran beteiligt, curriculare Anpassungen zu etablieren, um moderne Standards in der Physiotherapieausbildung widerzuspiegeln. Daher kann ich sagen, dass die Schülerinnen und Schüler unserer Schule zu guten Physiotherapeuten ausgebildet werden, die zu Clinical Reasoning fähig sind.

Vielleicht sind Lehrende mit akademischem Hintergrund, die mit der ICF und der evidenzbasierten Praxis vertraut sind, in einer Berufsfachschule jedoch eher die Ausnahme als die Regel, im Vergleich zu einer Hochschule, wo Lehre und Forschung Hand in Hand gehen. An der Hochschule ist es – im Gegensatz dazu – die Regel, die Studierenden zu praktisch arbeitenden Klinikern auszubilden, ihnen aber auch eine starke Basis für kritisches Denken im wissenschaftlichen Prozess und Clinical Reasoning zu bieten.


Einer der wichtigsten Faktoren, die dazu beitragen die Autonomie des Patienten zu erhöhen, ist die Verbesserung der realen Teilhabe außerhalb des häuslichen Umfelds (Bildquelle: © Carlos González Blum)

Das Konzept der evidenzinformierten Therapie ist vom ersten Modul bis zur Bachelorarbeit eng in ein Studium integriert. Aus diesem Grund bin ich auch ein Befürworter der Modernisierung der Physiotherapieausbildung in Deutschland durch Akademisierung. World Physiotherapy (vormals WCPT, die Red.) hat die Vision definiert, dass Physiotherapeuten weltweit mindestens auf Bachelorniveau ausgebildet werden sollten. Auch Physio Deutschland vertritt die Position, dass die Akademisierung die dringende und richtige Antwort auf die wachsenden Anforderungen in der therapeutischen Versorgung von Patienten ist.

BODYMEDIA: Wie ist der Stellenwert von repetitivem Üben und körperlichem Training in der neurologischen Rehabilitation?

Carlos González Blum: Seit Jahrzehnten wissen wir, dass ein intensives, hochrepetitives Aufgabentraining wichtig ist, um gute Therapieergebnisse zu erzielen. Gerade in den letzten Jahren wurde dies in systematischen Übersichtsarbeiten und Metaanalysen immer wieder als hochrelevanter Wirkfaktor des körperlichen Trainings isoliert. Aus diesem Grund empfehlen nationale und internationale Leitlinien, dass Kliniker ein hochintensives und repetitives Training einsetzen sollten.

BODYMEDIA: Ein zentraler Punkt in der neurologischen Rehabilitation ist das motorische Lernen. Was wissen wir aktuell über Motorlearning?

Carlos González Blum: Damit motorisches Lernen stattfinden kann, sollte das Training für den Patienten herausfordernd sein. Das bedeutet aber, dass die Aufgabe geshaped (schrittweise von grober zu feiner Bewegungsausführung) sein sollte, um stets an der aktuellen Leistungsgrenze einer Person arbeiten zu können.

Ein Beispiel, bei dem Shaping entscheidend ist, ist die CIMT-Therapie. Die von Wulf und Lewthwaite entwickelte OPTIMAL-Theorie legt nahe, dass auch die Motivation und Aufmerksamkeit eines Patienten positiv zum motorischen Lernen und zur Leistung beitragen. Dies geschieht beispielsweise durch die Steigerung der Erwartungen der Patienten an zukünftige Leistungen und das Ziel, ihre Autonomie zu verbessern. Auch ein Training mit externer Aufmerksamkeit und einem guten Maß an positivem Feedback ist für das motorische Lernen relevant.

Ich denke, dass einer der wichtigsten Faktoren, die berücksichtigt werden sollten, die Verbesserung der realen Teilhabe außerhalb des häuslichen Umfelds ist. Wir wissen zum Beispiel, dass das Gehen mit hoher Intensität die Gehgeschwindigkeit und die maximale Gehstrecke deutlicher verbessert als Gehen mit niedriger Intensität.

Eine der Studien, die mich kürzlich beeindruckt hat und die Ende 2022 von George Hornby veröffentlicht wurde, zeigte, dass Gehen in verschiedene Richtungen, in unterschiedlichen Kontexten, mit Steigungen, Hindernissen, auf einem Laufband und Treppensteigen im Gegensatz zu hochintensivem Vorwärtsgehen nur auf einem Laufband die Anzahl der pro Tag ausgeführten Schritte in der realen Welt signifikant verbesserte.

Für mich hat dieses Ergebnis gezeigt, wie viele verschiedene Prinzipien des motorischen Lernens zusammenkommen: Intensität, Repetition, Salienz, aber vor allem der Nutzen von Trainingsspezifität in variablen Lebenssituationen.

BODYMEDIA: Wie ist der Effekt auf die Bewegungsqualität, wenn (hoch)repetitiv geübt und trainiert wird?

Carlos González Blum: Die Academy of Neurological Physical Therapy veröffentlichte 2020 eine klinische Praxisleitlinie für Schlaganfall, inkomplette Rückenmarksverletzung und Hirnverletzung, und sie hebt hervor, dass Studien ergeben haben, dass hochintensives Gangtraining – obwohl es sich nicht auf die Wiederherstellung der normalen Kinematik konzentriert – besser ist zur Verbesserung von Gehgeschwindigkeit, Gehstrecke, aber auch Bewegungsqualität als traditionelle neurophysiologische Ansätze.

BODYMEDIA: Und wie ist der Effekt auf Spastik, wenn (hoch)repetitiv geübt und trainiert wird?

Carlos González Blum: Dieselbe Leitlinie betont, dass hochintensives Gangtraining die Spastik nicht verschlechtert.

BODYMEDIA: Wie hoch sollte der Anteil von intensivem bzw. (hoch)repetitivem Üben und körperlichem Training in der Reha sein?

Carlos González Blum: Dies kann differenziert werden. Die American Stroke Association empfiehlt, allgemeines Ausdauertraining an 3–7 Tagen pro Woche bis zu 60 Minuten pro Trainingseinheit durchzuführen. Die Intensität sollte zwischen 11 und 14 auf der RPE/BORG-Skala von 6 bis 20 liegen. Das entspricht etwa 40 bis 70 % Herzfrequenzreserve. Neueste Studien haben jedoch gezeigt, dass die besten Gehergebnisse nach einem Schlaganfall erreicht werden, wenn mit einer Intensität von 70 bis 80 % der Herzfrequenzreserve trainiert wird.

Eine weitere gute Maßnahme ist es, zu versuchen, eine Trittfrequenz von mindestens 70 Schritten pro Minute zu erreichen, was etwas mehr als einem Schritt pro Sekunde entspricht. Neuere Studien empfehlen, dass Patienten zwei Monate nach einem Schlaganfall etwa 1.600 Schritte pro Tag gehen, um ein Jahr später täglich 6.000 Schritte gehen zu können. Dies ist wichtig, da festgestellt wurde, dass dies die Anzahl der Schritte ist, die erforderlich sind, um das Risiko zukünftiger Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verringern.

BODYMEDIA: Wenn wir es zusammenfassen: Wie sollten Patienten mit neurologischen Erkrankungen optimalerweise therapiert werden? Welche Methoden sollten nicht mehr angewendet werden?

Carlos González Blum: Generell sollten Therapeuten nach Schlaganfällen, inkompletten Rückenmarksverletzungen, Hirnverletzungen, aber auch chronischen, progredienten neurologischen Erkrankungen, wie Multiple Sklerose und Morbus Parkinson, darauf abzielen, Therapiesitzungen zu gestalten, die für ihre Patienten bedeutungsvoll und für ihre Teilhabe relevant sind. Sie sind idealerweise herausfordernd, hochrepetitiv, variabel und aufgaben- und wenn möglich kontextspezifisch. Ihre Trainingsprogramme sollten auch Ausdauer- und Krafttraining beinhalten.

Therapeuten sollten es den Patienten auch ermöglichen, Aktivitäten so unabhängig wie möglich und ohne therapeutische Unterstützung auszuführen, wenn dies nicht erforderlich ist.

Auch sollten Patienten bei der Durchführung Fehler machen dürfen. Motorisches Lernen ist implizit. Jeder Fehler, der bei der Ausführung der Aktivität gemacht wird, hilft dem Gehirn, mit Beeinträchtigungen umzugehen und eine zielgerichtete Strategie zu entwickeln.

Gängige, traditionelle, neurophysiologische Therapien mit geringer Intensität oder mit Fokus auf die Bewegungsqualität, mit viel manueller Unterstützung, um „atypische Bewegungsmuster“ zu adressieren, berücksichtigen nicht die entscheidenden Trainingsparameter und reduzieren stattdessen die Trainingsmenge und -intensität.

BODYMEDIA: Ein Beitrag in der physiopraxis mit dem Titel „Neuroreha – Was entscheidet?“, den du kürzlich mitverfasst hast, ist auch eine Reaktion auf einen früheren Artikel, der behauptet, es gäbe eine neue „Renaissance der Bewegungsqualität“.

Carlos González Blum: Wir wollten die diesbezüglich vertretene Position kritisch hinterfragen und auch den nationalen und internationalen Forschungsstand für die Leserschaft darstellen. Der Titel und die Argumentation sind aus unserer Sicht potenziell irreführend und tragen unseres Erachtens dazu bei, eine nachweislich suboptimale Behandlungsphilosophie in der Gesundheitspraxis zu bewahren. Dies entspricht nicht den aktuellen Best-Practice-Standards und wir hielten es für wichtig, eine substanzielle Reaktion zu veröffentlichen, um den internationalen Konsens hervorzuheben. Das ist wichtig, damit wir weiter vorankommen.

Die Resonanz, die wir seit der Veröffentlichung des Artikels erhalten haben, einschließlich eines Leserbriefes in der März-Ausgabe der Physiopraxis, bestätigt die Notwendigkeit unseres Beitrags.

BODYMEDIA: Lieber Carlos, wenn gleich die gute Fee hier vorbeikäme und du hättest ein paar Wünsche frei für die neurologische Physiotherapie in Deutschland – was würdest du dir wünschen?

Carlos González Blum: Ich wünsche mir, dass das beste verfügbare Wissen und die Forschung leichter in die klinische Praxis überführt werden können. Oft gibt es eine große Diskrepanz zwischen Forschung und klinischer Praxis. Idealerweise sollten sich natürlich auch Therapeuten dafür einsetzen, dies im Praxisalltag konsequent umzusetzen und gleichzeitig die individuelle Situation und Ziele ihrer Patienten zu berücksichtigen.

Unter den aktuellen Rahmenbedingungen in Deutschland ist es gerade in der ambulanten Versorgung eine Herausforderung, wissenschaftlich und leitlinienorientiert zu arbeiten. Aus diesem Grund wünsche ich mir auch deutliche strukturelle Veränderungen, dass die evidenzbasierte Neurorehabilitationsforschung Druck auf bestehende gesundheitspolitische Strukturen, Kostenträger und Entscheidungsträger ausübt, bewährte Therapien anzuerkennen und finanziell zu unterstützen.

Derzeit lernen unseren Physiotherapiestudierenden und Auszubildenden ein breites Spektrum evidenzbasierter Therapien für eine Gesundheitsinfrastruktur kennen, die diese nicht unterstützen kann. Es ist eine schreckliche Verschwendung von Ressourcen und Wissen und am Ende erhält der Patient keine Therapie auf der Grundlage der besten verfügbaren Evidenz, was einerseits gegen die grundlegenden ethischen Prinzipien unseres Berufsstandes verstößt, wie sie im World Physiotherapy und andererseits auch im Widerspruch zum Sozialgesetzbuch V steht, wo es heißt, dass Therapien „zweckmäßig und wirtschaftlich“ sein, dem allgemein anerkannten Stand der Erkenntnisse entsprechen und den Fortschritt dieser berücksichtigen müssen.

BODYMEDIA: Vielen Dank für das Interview!

Bildquelle Header: © Carlos González Blum

Die Autoren

  • Jan Althoff

    Jan Althoff ist Physiotherapeut, hat einen M.Sc. in Neurorehabilitationsforschung und ist Auditor für Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen. Er sammelte Erfahrung in internationalen Projekten im Bereich Rehabilitation, Entwicklung und Aufbau von Rehaeinrichtungen, Aus- und Weiterbildung von Therapeuten. Im April 2023 übernahm er die Redaktion des Magazins BODYMEDIA Physio.

  • Carlos González Blum

    Carlos González Blum begann seine Ausbildung zunächst mit dem B. Sc. in Physiotherapie und setzte dann mit dem M. Sc. in Neurorehabilitation fort. Er ist Fachdozent für Neurologie und Beauftragter für Interprofessionalität an der Gesundheitsschulen Südwest, Lehrbeauftragter für Neurorehabilitation im Studiengang Physiotherapie an der Hochschule Furtwangen und Doktorand an der Universität  Osnabrück.

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