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Kognitive Fitness und Neuroathletik erobern den Fitnessmarkt

Kognitive Fitness und Neuroathletik sind noch relativ junge Trainingsformen. Doch was genau ist eigentlich Neuroathletik und kognitives Training? Was zeichnet diese Disziplinen aus? Welche Zielgruppen können von diesen Trainingsformen profitieren und wie lassen sie sich in den Alltag von Fitness- und Gesundheitsstudios integrieren? Diese Fragen haben wir in Kurzinterviews einigen Experten dieser Fachgebiete gestellt.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Die Aufgabe des Gehirns ist die Steuerung und Regulierung der körperlichen Funktionen, Verletzungen und körperliche Symptome sind daher Resultat defizitärer Regulierung zentralnervöser Steuermechanismen.
  • Präventiv und rehabilativ hat das neurozentrierte Training hohes Potenzial.
  • Durch den Fokus auf die eingehenden Informationen und deren Verarbeitung im Gehirn setzt das Training auf Ursachenforschung statt Symptombehandlung.
  • Kognitive Fitness und Neuroathletik sollten Studiobetreiber jetzt aufgreifen und als erweitertes Leistungsangebot anbieten, um Neukunden zu gewinnen und Bestandskunden mit neuen Trainingsmöglichkeiten zu halten.

Portrait von Luise Walther, Personal Trainerin und selbstständig als neurozentrierte Trainerin

Luise Walther, Personal Trainerin und selbstständig als neurozentrierte Trainerin

BODYMEDIA: Warum ist Neuroathletik mehr als nur ein Trend?

Luise Walther: Neuroathletik ist die Weiterentwicklung vom klassischen Athletiktraining. Es setzt den Fokus auf die gehirnbasierten Prozesse des Menschen. Grundlage ist die Entstehung von Bewegung und Schmerzen im Gehirn. Im Mittelpunkt stehen also die Informationsaufnahme der Sinnesreize und deren Verarbeitung. Wenn die Informationen klarer aufgenommen werden und mehr Informationen in kürzerer Zeit verarbeitet werden können, ist das Ergebnis besser, schneller, stabiler, fokussierter, höher oder weiter.

BODYMEDIA: Wie lässt sich Neuroathletiktraining am effektivsten mit dem klassischen Kraft- und Kardiotraining kombinieren?

Luise Walther: Je nach Schwerpunkt und sportartspezifischer Ausrichtung können neuroathletische Elemente einfach in das klassische Kraft- und Kardiotraining eingebunden werden. Oftmals empfiehlt es sich, beim Warm-up Übungen einzubauen, die das Nervensystem und den gesamten Körper dann auf die Kraft- und Kardioeinheit vorbereiten und optimieren. So ist beispielsweise der Fokus auf reflexive Stabilität sinnvoll und hilft, Verletzungen zu vermeiden. Gezielte Aktivierung der spezifischen Muskelgruppen und Nervenmobilisierung können zudem das Krafttraining effektiver gestalten. Beim Kardiotraining kann ebenso der Fokus auf veränderte eingehende Informationen gesetzt werden. Als Beispiel kann hier mit Lufthungerübungen oder konzentrierter Nasenatmung das Training auf das nächste Level gehoben werden.

BODYMEDIA: Warum ist der Einsatz von Neuroathletik vor allem im Personal Training und im Bereich der Prävention und Rehabilitation sinnvoll?

Luise Walther: Sowohl präventiv als auch rehabilativ hat das neurozentrierte Training extremes Potenzial. Durch den Fokus auf die eingehenden Informationen und deren Verarbeitung im Gehirn setzt das Training auf Ursachenforschung statt Symptombehandlung. Dort anzusetzen, wo Schmerz und Bewegung entstehen, ist die effektive und effiziente Trainingsform, die sich in den nächsten Jahren durchsetzen wird. Gerade im Personal Training und Therapiebereich, in dem individuell und personalisiert gearbeitet wird, kann dementsprechend gezielt getestet und trainiert werden. Denn am Ende profitieren alle davon, wenn das Gehirn schneller und sicherer arbeitet und die Bewegung, die Atmung, die Augen und das Gleichgewicht sich verbessern.

Portait von Chris Baur, Internationaler Vertriebsleiter Xelerate

Chris Baur, Internationaler Vertriebsleiter Xelerate

BODYMEDIA: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Effekte, die durch Kognitive Fitness erzielt werden können?

Chris Baur: Geplant und initiiert werden Bewegungsabläufe von den motorischen Zentren im Gehirn. Das Zusammenspiel zwischen Gehirn, Rückenmark und den über 650 Muskeln des menschlichen Körpers verleiht uns die Fähigkeit, komplex und mit Intelligenz motorisch zu reagieren. Durch kognitives Training lässt sich diese Fähigkeit gezielt schulen. Das hilft zum einen dabei, alltägliche Bewegungsabläufe zu verbessern und zum anderen gesund zu altern. Darüber hinaus können Sportler durch kognitives Training lernen, sportartspezifische Situationen schneller zu erkennen und entsprechende Problemlösungen zu finden.

BODYMEDIA: Warum sollten Fitness- und Gesundheitsstudios auf das Thema Kognitive Fitness setzen?

Chris Baur: „Use it or lose it“, dies gilt gleichermaßen für Muskeln wie für kognitive Fähigkeiten. Die meisten Trainingsformen haben ausschließlich das ausführende Organ, den Muskel, im Fokus. Wer neben ästhetischen Gründen den Erhalt der Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter anbieten möchte, sollte sich unbedingt mit dem Thema Kognitive Fitness auseinandersetzen. Die menschliche Bewegung ist sehr komplex und beginnt immer im Gehirn. Daher muss neben den Muskeln auch das neuronale System trainiert werden, denn dieses sammelt und verarbeitet notwendige Informationen, die für all unsere Bewegungen erforderlich sind.

BODYMEDIA: Welche Zielgruppen können Fitnessstudios durch Angebote im Bereich Kognitive Fitness gewinnen?

Chris Baur: Kognitive Fitness ist für unzählige Zielgruppen jeden Alters interessant. Kinder, Erwachsene, Best Ager und Leistungssportler profitieren von dieser Trainingsform der Zukunft. Rein körperliches Training war gestern, zukünftig werden Fitness- und Gesundheitsstudios nicht drumherum kommen, komplexere Trainingsformen anzubieten. Auch der Leistungssport beschäftigt sich immer mehr mit dem Thema „Neuroathletik“. Kognitives Training schafft auf einfache und interessante Weise den (Wieder-)Einstieg in den sportlichen Alltag. Das große Plus des Kognitiven Trainings ist, dass dabei Spaß und Freude an der Bewegung im Vordergrund stehen. Das macht es jedem Kunden leichter, Erfolgserlebnisse zu feiern und sein individuelles Trainingsziel zu erreichen.

Portrait von Nikolai Petro, Personal Trainer und Inhaber SpeedLetiX GmbH

Nikolai Petro, Personal Trainer und Inhaber SpeedLetiX GmbH

BODYMEDIA: Warum sollten Fitness- und Gesundheitsstudios auf das Thema Kognitive Fitness setzen?

Nikolai Petro: Wir leben heutzutage in einer schnelllebigen Zeit und in einer Welt, die bunt, laut und blinkend ist. Eindrücke fallen von allen Seiten auf uns ein, ob Musik, Nachrichten, Bilder, Werbung u. v. m. Um damit umgehen zu können, müssen die richtigen Entscheidungen immer noch schneller getroffen werden. Unsere Wahrnehmung, Denkprozesse und Verarbeitung müssen zu 100 % leistungsfähig sein. Das heißt, die Anforderungen an die Entwicklung der visuell-kognitiv-motorischen Fähigkeiten eines Menschen im Alltag, Beruf und Sport werden immer wichtiger und anspruchsvoller, was bedeutet, dass diese Bereiche auch zukünftig verstärkt und gezielt trainiert werden müssen. Diese Entwicklung sollten Studiobetreiber jetzt aufgreifen und mit speziellen digitalen Trainingssystemen und -konzepten den Bereich der Kognitiven Fitness als erweitertes Leistungsangebot anbieten, um Neukunden zu gewinnen und Bestandskunden mit neuen Trainingsmöglichkeiten zu halten.

BODYMEDIA: Welche Zielgruppen können Fitnessstudios durch Angebote im Bereich Kognitive Fitness gewinnen?

Nikolai Petro: Kognitive Leistungsfähigkeit betrifft grundsätzlich alle Menschen in allen Lebensbereichen. Somit sollte Kognitive Fitness auch von allen Menschen gezielt trainiert werden. Das heißt die Betreiber von Fitness- und Gesundheitsanlagen erreichen damit jede gewünschte Zielgruppe – von Klein bis Groß, vom Hobby- und Freizeitsportler bis hin zum Leistungssportler oder Reha- und Gesundheitspatienten. Hier besteht also ein großes Entwicklungs- und Wachstumspotenzial für Fitness- und Gesundheitsanlagen. Viele Kunden werden gerade in der heutigen Zeit vor einer Neuanmeldung noch mal genau prüfen, was die Fitnessclubs vor Ort zu bieten haben, und dann gegebenenfalls – je nach Leistungsangebot – wechseln. Die Verschiebung lokaler Marktanteile zugunsten gut aufgestellter Betriebe, die sich mit dem Thema kognitive Fitness auseinandersetzen, dürfte deshalb noch stärker ausfallen.

BODYMEDIA: Wie können Trainer im Studio Elemente der Kognitiven Fitness in ihre Trainingspläne einbauen?

Nikolai Petro: Das Training der Kognitiven Fitness sollte als Ergänzung zu klassischen Übungen in Trainingspläne integriert werden. Grundsätzlich ist es sinnvoll, seinen Mitgliedern ein allumfassendes Trainingskonzept, sozusagen das Rundumsorglospaket, anzubieten. Auch im Bereich der Kognitiven Fitness ist es wichtig, dass der Trainer zuvor ausführlich geschult wird, damit die Übungen zielgerichtet im Trainingsplan des Mitglieds integriert und korrekt übermittelt werden können. Wie bei den klassischen Trainingsbereichen sollten auch hier vor Beginn der neuen Übungen der Trainingsstand und der aktuelle Zustand der kognitiven und physischen Fähigkeiten des Sportlers festgestellt sowie durch regelmäßige Testungen und daraus gewonnene Daten nachjustiert werden.

Portrait von Patrick Meinart, Experte für Neuroathletik und Inhaber der Release Fitness Academy

Patrick Meinart, Experte für Neuroathletik und Inhaber der Release Fitness Academy

BODYMEDIA: Mit welchen Zielgruppen macht ein Neuroathletiktraining Sinn und warum?

Patrick Meinart: Neuroathletik eignet sich grundsätzlich für jeden, egal ob Sportler oder nicht. Obwohl das Wort „Athletik“ in dem Begriff vorkommt, ist diese Trainingsform nicht zwingend auf Athleten beschränkt. Es gibt zwar auch spezielle Inhalte für Sportler, doch die Basis ist auf jeden anwendbar, da der Fokus auf die Grundlagen der Bewegung ausgerichtet ist. Bewegung wird in allen seinen Teilen in Hinblick auf die Steuerung über das Nervensystem auseinandergenommen und von allen relevanten Perspektiven betrachtet. Dazu gehört u. a. der Einfluss der Propriozeption des visuellen und des vestibulären Systems auf die Entstehung der Bewegung. Gleichzeitig wird untersucht, ob Bewegung durch diverse negative Einflüsse auf das Nervensystem Einschränkungen unterliegen kann. Die Idee hierbei ist, dass unser Nervensystem unentwegt Signale aus unserer Umwelt und aus unserem Körperinneren verarbeiten muss. Bestimmte Signale oder Informationen kann unser Nervensystem als potenziell schädigend, also als Bedrohung auffassen. Diese Bedrohungen können zu Störungen in anderen Bereichen führen, z. B. in der Bewegung.

BODYMEDIA: Wann hat sich der Bereich Neuroathletik entwickelt und seit wann wird dieses noch relativ junge Trainingsprinzip verstärkt eingesetzt?

Patrick Meinart: Der Begriff „Neuroathletik“ wurde von Oliver Bierhoff geprägt, nachdem er die Arbeit von Lars Lienhard bei Fußballern begutachtet hat. Seitdem steht der Begriff für jede Form von neurozentriertem Training. Neuroathletik basiert auf dem Ausbildungskonzept Z-Health von Eric Cobb. Bei Z-Health werden Training und Therapie in Einklang mit der Funktion des Nervensystems gebracht. Dieses Konzept basiert lose auf der Grundlage der Funktionellen Neurologie, die etwa 1978 von Fred Carrick entwickelt wurde. Während Z-Health und Neuroathletik primär der Verbesserung von Bewegungsmustern dient, konzentriert sich die Funktionelle Neurologie auf pathologische Mechanismen.

BODYMEDIA: Wie verbreitet ist Neuroathletik heute und welche Bedeutung hat die Trainingsform im Spitzensport?

Patrick Meinart: Im Spitzensport ist Neuroathletik meiner Ansicht nach bisher noch nicht stark verbreitet. Dies mag daran liegen, dass es eine relativ junge Disziplin ist und die Evidenz zum Einsatz im Leistungssport derzeit noch fehlt. Dennoch werden Elemente aus der Neuroathletik zu klassischen Trainingsansätzen häufig hinzugefügt, da die Neuroathletik nicht bedeutet, ursprüngliche Trainingsmethoden zu verwerfen, sondern diese unter einer neuen Perspektive zu betrachten und entsprechend der Funktion des Nervensystems zu optimieren. In dieser Hinsicht hat die Neuroathletik sicherlich einen Paradigmenwechsel erbracht.

Portrait von Lars Lienhard, Trainer, Autor, Entwickler des Neuroathletiktrainings

Lars Lienhard, Trainer, Autor, Entwickler des Neuroathletiktrainings

BODYMEDIA: Warum ist Neuroathletik mehr als nur ein Trend?

Lars Lienhard: Es geht im neurozentrierten Training um ein Verbessern der neuronalen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich sämtliche körperlichen Prozesse abspielen. Jede körperliche Äußerung, jede Interaktion mit der Umwelt wird zentralnervös gesteuert. Der Körper führt die Entscheidungen, die das Gehirn getroffen hat, entsprechend nur aus. Egal, ob es hierbei um die Atmung, die Regulierung der Tonusmuster oder des Blutdrucks geht. Wenn wir uns also mit den im Hintergrund ablaufenden zentralnervösen Prozessen beschäftigen und diese gezielt adressieren, ist dies essenziell für alle Trainings- und Therapieinterventionen und meines Erachtens mehr als nur ein Trend.

BODYMEDIA: Wie lässt sich Neuroathletiktraining am effektivsten mit Kraft- und Kardiotraining kombinieren?

Lars Lienhard: Am effektivsten lässt sich ein Neuroathletiktraining mit Kraft- oder Kardiotraining kombinieren, indem man die für die Lösung der anstehenden Bewegungsaufgabe, wie beispielsweise eine Kniebeuge oder Laufen, beteiligten kortikalen Bereiche im Vorfeld adressiert. Dies kann in das Aufwärmprogramm integriert oder unmittelbar während der Bewegungsausführung bzw. auch als aktive Satzpause umgesetzt werden.

BODYMEDIA: Warum ist der Einsatz von Neuroathletik vor allem im Bereich der Prävention und Rehabilitation sinnvoll?

Lars Lienhard: Die Aufgabe des Gehirns ist die Steuerung und Regulierung der körperlichen Funktionen. Man muss Verletzungen und körperliche Symptome daher immer auch als Resultat defizitärer Regulierung zentralnervöser Steuermechanismen betrachten.Betrachtet man die jeweiligen Symptome oder Verletzungen isoliert von zentralnervösen Einflussfaktoren, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Funktionalität der betroffenen Strukturen nur unzureichend aufgebaut werden kann. In jedem Rehabilitationsprozess sollten daher immer auch diejenigen Aspekte mit aufgearbeitet werden, die in der Entstehung der Verletzung bzw. des Symptoms ursächliche Rollen gespielt haben. Ähnlich verhält es sich mit verletzungsprophylaktischen Maßnahmen. Die beste Art, Verletzungen vorzubeugen, besteht darin, die Bewegungssteuerung zu optimieren und dem Gehirn bestmögliche Sicherheit in Bezug zur Wahrnehmung der Umwelt, des eigenen Körpers und der eigenen Bewegung zu gewähren.

Der Autor

  • Constantin Wilser

    Constantin Wilser ist seit 2006 in der Fitnessbranche als Redakteur tätig. Davor absolvierte er sein Bachelor-Studium der Sportwissenschaften am KIT in Karlsruhe. Seit 2019 ist er Bestandteil des BODYMEDIA-Redaktionsteams. Seit Anfang 2023 ist er Chefredakteur. In seiner Freizeit trainiert der Fußball-Fan gerne im Studio, geht laufen oder fiebert im Fußball-Stadion mit.

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