Management

BGM-Experte Prof. Dr. Volker Nürnberg im Interview

Warum gelingt es Unternehmen derzeit noch zu wenig, durch geeignete BGM-Maßnahmen den hohen Krankenständen entgegenzuwirken? Welche Lösungsansätze sind für die Zukunft denkbar und welche Rolle könnten dabei Fitness- und Gesundheitsstudios spielen? Darüber haben wir mit dem BGM-Experten Prof. Dr. Volker Nürnberg gesprochen.

BODYMEDIA: Der aktuelle Gesundheitsreport der Krankenkasse DAK-Gesundheit zeigt, dass es im ersten Halbjahr 2023 ungewöhnlich viele krankheitsbedingte Arbeitsausfälle gab. Worauf ist das Ihrer Meinung nach zurückzuführen?

Prof. Dr. Volker Nürnberg: Es ist typisch, dass Mitarbeiter in einer Krise bzw. Pandemie loyal mit dem Unternehmen sind und sich die Belastungen erst danach zeigen. Am häufigsten sind Muskel-Skelett-, Atmungs- und psychische Erkrankungen. Nachdem wir lange Maske getragen haben, scheint unser Immunsystem geschwächt. Die mentalen Probleme der Mitarbeiter explodieren förmlich, das hängt auch an den schnellen Veränderungen auf der Welt.

BODYMEDIA: Warum gelingt es deutschen Unternehmen bisher offensichtlich nicht, durch gezielte BGM-Maßnahmen das Problem der stark steigenden Krankschreibungen zu lösen?

Prof. Dr. Volker Nürnberg: Es haben überhaupt zu wenige Unternehmen ein ganzheitliches BGM, und zielgruppenspezifische Angebote schon gar nicht. Ein ausgewogener Mix aus Verhältnis und Verhaltensprävention mit modernen Ansätzen wäre nötig. Man müsste sie dabei mehr unterstützen, sie fördern und fordern. Hilfe zur Selbsthilfe sozusagen. (Mehr dazu: BGM – Umsetzungsmöglichkeiten für Fitnessstudios)

BODYMEDIA: Wie könnten Ihrer Meinung nach konkrete Lösungsansätze für Unternehmen aussehen, damit BGM-Maßnahmen den gewünschten Erfolg erzielen?

Prof. Dr. Volker Nürnberg: Es gibt kein BGM von der Stange und kein „quick and dirty“. Man muss einen langfristigen PDCA-Zyklus (PDCA-Zyklus hat seinen Namen von den Anfangsbuchstaben seiner Phasen: Plan, Do, Check, Act Anm. d. Red.) installieren und die Maßnahmen an den individuellen Bedürfnissen der Unternehmen orientieren. Auf dem Land ist das anders als in der Stadt, in der Industrie anders als in der öffentlichen Verwaltung.

Oftmals ist das BGM inzwischen nur Teil des Employer Brandings, man tut es, um ein attraktiver Arbeitgeber zu sein. Es wird aber nicht auf die Evidenzbasierung, also die Qualität, geachtet.

BODYMEDIA: Ist die gestiegene Zahl an Krankschreibungen Ihrer Meinung nach auch darauf zurückzuführen, dass das Thema BGM bei Unternehmen in Deutschland nicht den Stellenwert wie gewünscht genießt? Falls dem so ist, wie ließe sich das ändern?

Prof. Dr. Volker Nürnberg: Ja, das ist auch darauf zurückzuführen. Wenn wir wegen des Fachkräftemangels wollen, dass Mitarbeiter mindestens bis 67 arbeiten, müssen wir das mit gesundheitsfördernden Maßnahmen flankieren. Es bedarf eines Maßnahmenbündels. Bisher sind nur die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet, die Gesundheit zu fördern, und Unternehmen nicht. Darüber hinaus gilt es, Anreize für Mitarbeiter zu schaffen, mehr auf die Gesundheit zu achten. Es sind ja zum Beispiel 60 % der Deutschen übergewichtig.

BODYMEDIA: Kritiker bemängeln, dass klassische BGM-Maßnahmen häufig nur von Mitarbeitern in Anspruch genommen werden, für die ein gesunder Lebensstil ohnehin wichtig ist, alle anderen hingegen nehmen die Angebote nicht wahr. Ist das wirklich so? Welche Ansätze haben Sie, um dieses Problem zu lösen?

Prof. Dr. Volker Nürnberg: Ja, das ist wirklich so, die Gesundheitsförderung macht die Gesunden noch gesünder. Der typische Teilnehmer z. B. eines Präventionskurses nach § 20 SGB V ist weiblich, zwischen 30 und 40 Jahren und top gesundheitsbewusst. Einen Mann, Männer sind z. B. häufiger und öfter übergewichtig als Frauen, findet man hier selten.

Angebote müssen niedrigschwelliger sein, Gesundheit muss Spaß machen. Verbote machen keinen Sinn. VW hatte vor zwei Jahren im Hauptrestaurant die Currywurst abgeschafft und jetzt wieder eingeführt. Dazu können subtile Ansätze wie Incentivierung, also materielle oder immaterielle Belohnung, und Nudging, d. h. das unterbewusste Anstupsen in Richtung einer Verhaltensänderung, beitragen.

BODYMEDIA: Welche Rolle spielen derzeit Fitness- und Gesundheitsstudios im Gesamtkontext BGM? Sind Fitnessanbieter bisher ausreichend in den Gesamtprozess involviert? Welche Möglichkeiten sehen Sie, dass ihre Bedeutung im Bereich BGM steigt?

Prof. Dr. Volker Nürnberg: Viele Arbeitgeber haben eigene Fitnessstudios oder Kooperationen. Derzeit boomen insbesondere Anbieter wie Gympass, EGYM Wellpass oder Urban Sports Club. Gesundheit wird ein immer wichtigerer Wert für die Menschen, deshalb wird auch die Bedeutung der Fitnessbranche im Firmensetting zunehmen. Die Fitnessstudios müssen ihre Angebote noch mehr auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter ausrichten, z. B. wenn in Schichten gearbeitet wird. Zusätzliche digitale Angebote für mobiles Personal und niedrigschwellige Angebote für Mitarbeiter, die noch nicht reif fürs klassische Studio sind, z. B. Nordic Walking, sind erforderlich.

BODYMEDIA: Warum lohnt es sich Ihrer Meinung nach für Fitness- und Gesundheitsstudios, sich auf das Thema BGM zu fokussieren? Welche Kriterien müssen Fitness- und Gesundheitsstudios erfüllen, um sich erfolgreich als BGM-Anbieter am Markt etablieren zu können?

Prof. Dr. Volker Nürnberg: Deutschland hat immer noch nahezu Vollbeschäftigung und man erreicht die Menschen dort, wo sie am meisten sind, nämlich bei der Arbeit. Dazu kommt die Gruppendynamik im Team. Angesichts des Fachkräftemangels investieren Unternehmen in alles, was Mitarbeiter rekrutiert und bindet, da gehört das Fitnessstudio dazu. Und es soll die Angestellten bis ins hohe Alter leistungsfähig halten.

Leider sind die Rahmenbedingungen für ein Studio nicht optimal, der Gesetzgeber droht mit der Keule „geldwerter Vorteil“. Unternehmen wollen möglichst wenig Administrationsaufwand, eine steuerlich saubere Lösung und eine gewisse Qualität der Dienstleistung, die zu zufriedenen Kunden (Mitarbeitern) führt.

BODYMEDIA: Wie gelingt es Fitness- und Gesundheitsstudios, als hochwertiger BGM-Anbieter angesehen und von den Unternehmen letztlich als Kooperationspartner ausgewählt zu werden?

Prof. Dr. Volker Nürnberg: Leider ist das oft sehr bürokratisch. Um unter den 600-€-Freibetrag nach § 3 Nr. 34 Einkommensteuergesetz zu fallen, muss man in der Regel ein nach § 20 SGB V zertifiziertes Angebot haben. Die klassischen Handlungsfelder sind Bewegung, Ernährung, Stress und Sucht.

Hier spielt insbesondere auch die Grundqualifikation des Trainers eine Rolle (Mehr dazu: Präventionstrainer sind die Zukunft in der Fitnessbranche). Die zertifizierende Stelle, die ZPP, die einmal von mir gegründet wurde, ist inzwischen ein bürokratisches Monster. Traurige Folge ist, dass es hier unzählige Selbsthilfegruppen und kommerzielle Anbieter für Fitnessstudios gibt, um die ZPP zu „besiegen“ und damit ein steuerlich sauberes Angebot machen zu können.

BODYMEDIA: Vielen Dank für das Interview.

Bildquelle Header: © New Africa - stock.adobe.com

Die Autoren

  • Constantin Wilser

    Constantin Wilser ist seit 2006 in der Fitnessbranche als Redakteur tätig. Davor absolvierte er sein Bachelor-Studium der Sportwissenschaften am KIT in Karlsruhe. Seit 2019 ist er Bestandteil des BODYMEDIA-Redaktionsteams. Seit Anfang 2023 ist er Chefredakteur. In seiner Freizeit trainiert der Fußball-Fan gerne im Studio, geht laufen oder fiebert im Fußball-Stadion mit.

  • Prof. Dr. Volker Nürnberg

    Prof. Dr. Volker Nürnberg beschäftigt sich seit 20 Jahren mit allen Facetten der Gesundheitsökonomie. Zunächst setzte er betriebliche Konzepte bei den gesetzlichen Krankenkassen um, u. a. als Geschäftsführer bei AOK und BKK bis 2011. Danach war er Prokurist bei der globalen HR Beratung Mercer und seit 2017 ist er Partner bei der Prüf- und Beratungsgesellschaft BDO. Akademisch lehrt er seit 2007 an der TU München, erhielt 2011 seine erste BWL-Professur und seit 2019 ist er Professor für Gesundheitsmanagement an der Hochschule Allensbach. Dort forscht er zu Telemedizin, Gesundheit und Internet, ärztlicher Zweitmeinung und aktueller (betrieblicher) Gesundheitspolitik. Volker Nürnberg ist Mitglied in verschiedenen Vereinigungen und Aufsichtsräten und er ist zu Gesundheitsthemen einer der gefragtesten Referenten und Autoren in Deutschland.

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