Physiotherapie

Mikroaggressionen: kleine Worte – schlimme Wirkung

Auch kleine Verletzungen können schwere Wunden nach sich ziehen. Nicht sofort, aber über einen längeren Zeitraum hinweg. Während offener Rassismus und Sexismus in der Öffentlichkeit verpönt sind, verstecken sich hinter gut gemeinten Aussagen doch kleinere Diskriminierungen, sogenannte Mikroaggressionen. Wie man damit umgehen sollte, lesen Sie hier.

Im Gegensatz zu den USA begegnet uns der alltägliche Rassismus eher im kleineren Rahmen. Aussagen wie „Du sprichst aber gut Deutsch“ oder „Woher kommst du eigentlich?“  sind beim Gegenüber mit einer anderen ethnischen Herkunft wie kleine Nadelstiche, die umso stärker schmerzen, je häufiger sie ausgesprochen werden. Offener, aggressiver Rassismus sieht anders aus – trotzdem sind solche Worte nicht weniger diskriminierend. Ein Problem, das in Deutschland bereits flächendeckend bekannt ist, jedoch nach wie vor weit verbreitet, ist das Thema Sexismus, insbesondere gegenüber Frauen. „Was sagen denn die männlichen Kollegen zu meinen Beschwerden“ oder „Komm doch mal runter – du bist heute wieder ziemlich emotional – Frau halt“ wie auch der Kommentar, dass die neue Hose den Po der Kollegin ja sehr schön zur Geltung bringt, überschreiten teilweise die Grenzen des guten Geschmacks sowie auch die des Sexismus, sind allerdings noch so ertragbar, dass viele Frauen mit einem schiefen Lächeln darüber hinwegsehen. Viele Menschen ertragen diese Stiche, bis sie irgendwann beginnen zu schmerzen und ernsthaften Schaden bei den Betroffenen anzurichten. Häufig werden solche Sätze bedenkenlos ausgesprochen, ohne unbedingt verletzend gemeint zu sein. Abwertend sind sie trotzdem.

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Mikroaggressionen schaden nicht nur dem Betriebsklima, sondern auch der Gesundheit der Betroffenen

Da viele dieser Bemerkungen so klein sind, werden sie als Mikroaggressionen bezeichnet. Das lässt sie harmlos wirken, macht sie aber nicht ungefährlicher für die Wertschätzung des Einzelnen und das Betriebsklima. Und sie kommen in den besten Familien, sprich Unternehmen vor. Die Betroffenenzahlen sind enorm. So haben schon etwa 60 % der Angestellten erlebt, wie Kollegen diskriminiert wurden, immerhin 30 % waren schon selbst betroffen. Ein Problem, das sich also nicht so einfach wegdiskutieren lässt. Dabei machen Mikroaggressionen keinen Halt vor Ethnizität, Herkunft, Alter, Geschlecht oder der sexuellen Orientierung. Sei es der ältere Kollege, der mit der persönlichen Art des frisch eingestellten Therapeuten nicht klarkommt, die von der Anzahl ausländischer Mitarbeiter überforderte Bürokraft oder aber der Praxisinhaber, der seine weiblichen Mitarbeiterinnen nicht ernst nimmt. Sie alle schädigen die psychische Gesundheit des Gegenübers und mit jeder Bemerkung wird das Unternehmensklima etwas rauer und feindseliger. 

Ähnlich wie das Bewusstsein über Rassismus oder Sexismus dringt das Verständnis um die Mikroaggressionen nur langsam in das Bewusstsein der Bevölkerung. Dabei gibt es hierzu bereits seit den 1970er-Jahren wissenschaftliche Forschungsergebnisse. Diese werden zwar mit einiger Berechtigung von der Scientific Community angezweifelt, haben es jedoch geschafft, die Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken. Denn wer kein Bewusstsein schafft, kann keine Veränderung vornehmen. Und das sollte man tun. In Zeiten von Fachkräftemangel und schwindender Loyalität gegenüber Arbeitgebern, aber auch, um den Mitarbeitern ein angenehmes Arbeitsumfeld zu schaffen, müssen Arbeitgeber hier handeln. 

Problematisch wird es dabei nur, weil die Verletzungen im Kleinen passieren und sich nicht als offene diskriminierende Angriffe zeigen. Zudem ist den Aggressoren häufig nicht bewusst, wie verletzend ihre Aussagen sein können. Häufig hängen diese unbedachten Aussagen mit Vorurteilen oder unreflektierten Meinungen zusammen, die ohne nachzudenken geäußert werden. Daher ist es so schwer, die Täter von der Falschheit ihrer Handlungen zu überzeugen. Manch einer wird sich sicherlich denken, dass seine Äußerungen gut gemeint waren, ja, die Beziehung zum Kollegen sogar eher stärken sollten. Hier gilt es dann deutlich zu machen, dass die getroffenen Aussagen verletzend waren. Insbesondere in Stresssituationen fällt es Menschen schwer, ihr stereotypes, von Vorurteilen geprägtes Verhalten zu kontrollieren. Das Gehirn braucht die Ressourcen an anderer Stelle und kann sich mit so „Kleinigkeiten“ wie Gefühlen beim Gegenüber nicht beschäftigen. Dass der Ton in stressigen Zeiten etwas rauer sein kann, ist jedoch keine Entschuldigung für Mikroaggressionen. 

Aktiv werden gegen Mikroaggressionen
Um herauszufinden, ob sich eine mikroaggressive Kultur im Unternehmen gebildet hat, ist es wichtig, den Mitarbeitern ein offenes Ohr und die Plattform zu schenken, auf der sie das kommunizieren können. Offenheit in diesem Thema ist in größeren Unternehmen sicherlich einfacher zu leben als in kleineren. Aber es geht. Dann ist es für den Praxisinhaber wichtig, das Wissen um das Auftreten von Mikroaggressionen nicht zu ignorieren. Das Thema wird sich nicht von alleine lösen, wegschauen macht es nur noch schlimmer. Man muss die Meldung von Mikroaggressionen nicht den Betroffenen überlassen. Wer etwas beobachtet, sollte die Möglichkeit erhalten, den Vorfall anonym in ein Dokument einzutragen. Viel wichtiger jedoch ist es, im Team ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen, nur so kann die nötige Selbstreflektion angeregt werden, derer es bedarf, um das Thema einzudämmen. Damit wird eine Kultur der Offenheit geschaffen, sodass sich die Betroffenen zu Wort melden können, wenn eine Äußerung getätigt wird, die diskriminierend ist. Wenn möglich, sollte man als Praxisinhaber versuchen, den Alltag der Therapeuten so stressfrei zu gestalten. Dass das nicht immer möglich ist, zeigen Erfahrungen aus der Praxis. Deswegen sollte man das Thema aber nicht einfach außen vor lassen, sondern das Mögliche tun, um Mikroaggressionen zu verhindern.

Fazit
Mitarbeiter müssen sich an ihrem Arbeitsplatz wohlfühlen, um ihre Top-Leistungen zu bringen, motiviert und loyal zu bleiben. Passt das Arbeitsumfeld nicht, ist es für Physiotherapeuten ein Leichtes, eine Praxis mit einer weniger toxischen Unternehmenskultur zu finden. Daher sollte man als Praxisinhaber darauf achten, das Thema ernst zu nehmen.

Der Autor

  • Jonathan Schneidemesser

    Seit seinem Germanistik-und Philosophie-Studium in Mannheim arbeitet er für das Fachmagazin BODYMEDIA. 2015 übernahm er nach Abschluss seines BWL-Studiums die Chefredaktion für das Magazin. 2017 etablierte er die BODYMEDIA dann mit einem eigenen Magazin im Physio-Bereich. Seine sportliche Erfahrung sammelte vor allem in seiner aktiven Zeit als 800m-Läufer. In seiner Freizeit joggt er durch den Wald oder schwingt Kettlebells.