Ex-Funktionär gibt Kinderdoping im DDR-Sport zu

Fast 20 Jahre nach der Wiedervereinigung hat Thomas Köhler als erster Top-Sportfunktionär das flächendeckende Staatsdoping im DDR-Sport zugegeben und selbst Kinder-Doping im Schwimmen eingestanden.

In seinem Buch "Zwei Seiten der Medaille", das im Verlag Das Neue Berlin erscheint, bricht der frühere zweite Mann des DDR-Sports sein Schweigen und unterstellt auch Topathleten auf insgesamt 232 Seiten eine Mitwisserschaft. "Alle Mittel wurden im Einvernehmen mit dem Sportler verabreicht", schreibt Köhler.

Weil Anfang der 70er Jahre die Chancengleichheit für DDR-Sportler im Ost-West-Vergleich nicht mehr gewährleistet gewesen sei, "entschied sich die damalige Sportleitung für den Einsatz ausgewählter anaboler Substanzen in einer Reihe von Sportarten", schreibt der Rodel-Olympiasieger und ehemalige Vizepräsident des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB). "Wenn also die DDR weiterhin im internationalen Sportgeschehen erfolgreich mithalten wollte, blieb nichts weiter übrig, als den Einsatz von Dopingmitteln zu gestatten."

Die DDR-Verantwortlichen hätten sich für eine "sachgerechte und medizinisch kontrollierte Anwendung ausgewählter Dopingmittel" entschieden. Laut Köhler waren 1989 in den DDR-Sportclubs 90 Fachärzte tätig. Dazu kamen Verbandsärzte in sämtlichen Sportarten, Mediziner an den Sportschulen und Forschungsärzte in Leipzig und Kreischa. Köhler: "Die Vergabe von Medikamenten erfolgte unter strengster Beachtung der ärztlichen Sorgfaltspflicht... Schwere gesundheitliche Zwischenfälle oder sogar Todesfälle, die in anderen Ländern durchaus vorkamen, passierten in der DDR nicht", behauptet Köhler, obwohl er bei den DDR-Doping-Prozessen zwischen 1998 und 2000 von zahlreichen geschädigten Sportlern längst widerlegt wurde.

Der Sportfunktionär räumt auch ein, dass sogar Minderjährige gedopt wurden. Aber selbst das entschuldigt er: "Wenn Sportler bereits ab dem 16. Lebensjahr beteiligt wurden, geschah das vor allem unter Beachtung ihres biologischen Reifegrades." Dies sei vor allem im Schwimmen passiert. Inzwischen habe sich gezeigt, dass sogar noch jüngere Sportler gedopt wurden, "Anabolika an Spartakiadesportler vergeben wurden". Köhler rechtfertigt sich: "Über derartige Verletzungen unserer Nachwuchskonzepte hatte ich keine Kenntnisse und hätte diese auch nicht geduldet."

Der Stellvertreter von Sport-Diktator Manfred Ewald verschont auch seinen ehemaligen Chef und die Aktiven nicht. "Die Verantwortung war so verteilt, dass bis auf den Präsidenten des DTSB jeder nur so viel wusste, wie für seinen Bereich erforderlich war." Ihm fehle zudem jedes Verständnis, wenn Sportler heute alle Schuld den Ärzten, Trainern und Funktionären zuschieben.

"Es stimmt nicht, dass Sportler, die es ablehnten, unerlaubte Mittel zu nehmen, ihre Kaderzugehörigkeit verloren hätten." Als Beispiele nannte Köhler die Rodlerinnen Ute Rührold, Margit Schumann und Eva-Maria Wernicke, die wegen der Angst um ihre Figur Doping immer ablehnten - und trotzdem bei Olympia und WM Medaillen gewannen.

Köhler gibt, offensichtlich mit Blick auf die DDR-Dopingopfer, aber auch zu: "Aus heutiger Sicht haben wir Verantwortlichen des DDR-Leistungssports in der Dopingproblematik eine Reihe möglicher Konsequenzen nicht genügend beachtet, und nicht alle damaligen Entscheidungen können unter Berücksichtigung dieser Umstände gerechtfertigt werden.

Auch haben wir damit verbundene Risiken offensichtlich unterschätzt. Wie zum Beispiel die unkontrollierte Anwendung durch Sportler, die nicht zum Kaderkreis gehörten, oder die Einnahme überhöhter Dosierungen zum einseitigen Vorteil."

Der heute 70-jährige Pensionär wendet sich auch dagegen, dass die Erfolge des DDR-Sports ausschließlich auf "flächendeckendes Doping" zurückzuführen seien. Der zweimalige Rodel-Olympiasieger, der seit Jahren in Berlin lebt, wendet sich auch dagegen, dass nur der Osten Deutschlands des Dopings beschuldigt wird. "Flächendeckend kann man ohne Zweifel bezeichnen, was an Dopingmaßnahmen von der Uni Freiburg ausging."

Über Gehälter und Prämien schreibt Köhler, dass Trainer mit Hochschulabschluss 900 DDR-Mark im Monat erhielten, die mit Fachschulabschluss 800, jene ohne Abschluss 700. Dazu kamen Erfolgsprämien bis 1200 DDR-Mark. Lediglich die Chemnitzerin Jutta Müller, Trainerin von Olympiasiegerin Katarina Witt und der überaus erfolgreiche Rudertrainer Theo Körner erhielten höhere Bezüge. Die Sportler-Prämien betrugen bei einem WM-Sieg 15 000 DDR-Mark und bei Olympia-Gold 25 000 Mark.

Köhler enthüllt zudem: "Zu unseren gepflegtesten Geheimnissen gehörte die Zahlung von Valutaprämien." Nur für die ersten drei Plätze bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen standen Devisen zur Verfügung. Für einen Weltmeistertitel erhielt der Sportler "Forumschecks" im Werte von 3000 D-Mark. 1988 gab es für einen Olympiasieger sogar 6000 D-Mark in Form der begehrten Gutscheine, mit denen im "Intershop" Westwaren eingekauft werden konnten.

Der DDR-Rennrodler Thomas Köhler bei den Olympischen Winterspielen 1964 in Innsbruck. In seinem Buch "Zwei Seiten der Medaille" hat er jetzt flächendeckendes Staatsdoping zugegeben. Foto: dpa

Der Autor

  • Constantin Wilser

    Constantin Wilser ist seit 2006 in der Fitnessbranche als Redakteur tätig. Davor absolvierte er sein Bachelor-Studium der Sportwissenschaften am KIT in Karlsruhe. Seit 2019 ist er Bestandteil des BODYMEDIA-Redaktionsteams. Seit Anfang 2023 ist er Chefredakteur. In seiner Freizeit trainiert der Fußball-Fan gerne im Studio, geht laufen oder fiebert im Fußball-Stadion mit.