Physiotherapie

Bewegungen statt Symptome behandeln

Um zeitnah zur vollen Leistung zurückzukehren, muss der Therapeut die Logik der Funktionsstörung bei seinem Patienten verstehen. Nur so kann die Logik der Behandlungsstrategie angepasst werden. Wieso Bewegung dabei eine so große Rolle spielt und warum der Ansatz oft weit entfernt von den Symptomen liegt, lesen sie hier.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Die Gesundheit unserer Zellen, Organe und Muskeln ist die Voraussetzung für eine uneingeschränkte Gesamtfunktion unseres Körpers.
  • Schmerzen bei einer Verletzung sind Zeichen einer Störung dieser Gesundheit. Sie leiten zur Ursache der Problematik.
  • Um den Schmerz zu behandeln, muss die Bewegung analysiert werden, die in erster Linie dazu geführt hat.
  • So kann die Bewegungskontrolle erhöht und das weitere Verletzungsrisiko verringert werden.

Entzündungen, Kreuzbandrisse, Zerrungen oder auch komplizierte Knochenbrüche sind Verletzungen, die nicht nur im Sport häufig sind. Auch wenn diese Verletzungen bei Nichtsportlern deutlich seltener vorkommen, ist die Vorgehensweise für Anamnese und Behandlung identisch. Die Leistungssportler arbeiten zwar auf einem viel höheren Belastungsniveau, verfügen dagegen aber über eine deutlich bessere Bewegungskontrolle.

Egal aus welcher Leistungsklasse der Patient kommt, Verletzungen entstehen immer im Bereich außerhalb der Bewegungskontrolle. Diese scheinbar banale Erkenntnis stellt einen wichtigen Schalter auf der Suche nach der passenden Behandlungsstrategie dar. Denn wenn Verletzungen stets unkontrolliert stattfinden, muss die Verbesserung der Bewegungssteuerung unweigerlich zur verletzungsfreien Leistungssteigerung führen. Somit rückt die Fähigkeit, Bewegungen präzise auszuführen, in den Fokus unserer Behandlung.

Diese Fähigkeit wird mit den Verletzungen gestört bis vernichtet und liegt überall, nur nicht am Ort der Verletzung.

Den ganzen Körper sehen

Wir stellen keinen losen Behälter dar, in dem nachträglich einige Organe eingelegt wurden. Eine gesunde und erfolgreiche Therapie stützt sich auf die Akzeptanz, dass wir einst aus einem Zellhaufen entstanden sind, der sich im Zuge der Ontogenese unzählige Male gefaltet, gerollt, eingedreht hat, um so Keimblätter zu formen, aus denen wiederum die verschiedenen Organe, Strukturen und Funktionen entstehen zu lassen. So können wir getrost davon ausgehen, dass alle Strukturen miteinander verbunden sind.


Oft liegt die Ursache für Schmerzen nicht an der Schmerzstelle selbst, daher kann es Sinn machen Bewegungen zu behandeln (Bildquelle: © YURII MASLAK - stock.adobe.com)

Daraus kann logischerweise folgender Grundsatz abgeleitet werden: Wenn alle Strukturen unseres Körpers miteinander verbunden sind, wird die Funktion (= Gesundheit) jeder Struktur zur Voraussetzung der Funktion aller anderen Strukturen des Körpers. Im Umkehrschluss wird die Dysfunktion einer Struktur auch zur Fehlfunktion der restlichen Strukturen führen – mal schwächt sie sich entlang der Kette ab, mal potenziert sie sich.

Was für den funktionellen Zusammenhang unter den Organsystemen gilt, lässt sich auch auf jedes einzelne Organ übertragen: Ihre Gesundheit definiert sich durch ihre Funktion und beginnt auf kleinster Ebene, der Zellfunktion. Das gilt für unsere Natur genauso wie für Ihren Körper. Störungen der Zellfunktion äußern sich immer als Erkrankung und schränken die Gesamtfunktion des Körpers ein.

Verletzungen folgen demselben Prinzip. Schmerzen sind Zeichen, die uns zur Ursache der Problematik leiten. Aber: In den meisten Fällen liegt die Ursache nicht an derselben Stelle der Symptome. Um herauszufinden, wie man den Menschen wieder fit bekommt, sollte man anders vorgehen, als nur den schmerzenden Bereich zu behandeln. Natürlich muss bei einer akut gerissenen Muskelfaser auch akut an dieser Stelle behandelt werden.

Dennoch: Gerade bei solchen Traumata sollte immer in Betracht gezogen werden, dass vielleicht eine eingeschränkte Beweglichkeit – und somit eingeschränkte Bewegungskontrolle – die Verletzungswahrscheinlichkeit erhöht hatte. Nach vorne blickend, ist eine ganzheitlich ausgerichtete Rehabilitationsstrategie ebenfalls hilfreich, damit die Dysfunktion des verletzten Muskels nicht alle anderen Systeme in Mitleidenschaft zieht. Es wird also deutlich, dass gerade bei Langzeitbeschwerden mit oder ohne erkennbare Ursache, nicht nur die betroffene Stelle zu untersuchen ist.

Bewegung ist der Schlüssel

Sportmedizin und Sportphysiotherapie sind die Kunst, zwischen Sport und Medizin zu vermitteln. Die Schmerzfreiheit muss immer in Bewegung erreicht werden, denn im Stillstand (Sportverbot) ist jeder zunächst schmerzfrei. Wehe aber, wenn die Bewegung wieder als Leistung erbracht werden soll. Hier spielt das ‚WIE‘ der Bewegung eine tragende Rolle. Sie stellt den Schlüsselreiz für eine Anpassung unserer Körperstrukturen dar. Ohne sie geht es nicht.


Wer Leistungssportler behandelt, sollte spezifische Trainerqualitäten mitbringen, dass sie für die Betreuung unabdingbar sind (Bildquelle: © YURII MASLAK - stock.adobe.com)

Um zu verdeutlichen, warum es so wichtig ist, die Bewegung zu analysieren, ein Beispiel aus der Praxis: Ein Fußballer gibt Knieschmerzen beim Laufen an. Drei Ärzte hatten ihn schon vorher untersucht, konnten aber nichts am Knie feststellen. Was würdet ihr tun?

Natürlich muss der ganzheitliche Ansatz verfolgt werden, indem die Statik des gesamten Körpers untersucht wird. Aber endet es damit? Interessant wäre es zu wissen, wie viele Therapeuten folgenden Ansatz gewählt hätten: Wenn das Knie beim Laufen schmerzt, gibt es auch zwei Ansatzpunkte der Untersuchung. Während drei Ärzte sich auf das Knie und der Therapeut sich vielleicht auf Becken, Schulter oder Sprunggelenk gestürzt hätte, wurde hier erst mal der Lauf genauer betrachtet. Der Sportler zeigte in diesem Fall einen breitbasigen Laufstil, der fast wie ein kleiner Schlittschuhschritt aussah. Nach der Umstellung der Lauftechnik verschwanden die Knieschmerzen innerhalb von fünf Tagen.

Im Zuge dieser Stilanpassung wurde die Unfähigkeit, in die tiefe Hocke zu gehen, als größtes Defizit identifiziert. Das alles setzt spezifische Trainerqualitäten voraus, die für die Betreuung von Sportlern unabdingbar sind.

Man sollte es sich abgewöhnen, direkt die symptomatische Stelle zu behandeln. Das gilt nicht nur für den Bewegungsapparat, sondern genauso auch für jedes andere Organsystem. Von Schilddrüsenfehlfunktion über Allergien, Hauterkrankungen, Rheuma bis zu Blutdruck-, Herz- und Lungenproblemen – sie stellen oft nur eine Reaktion eines völlig gesund funktionierenden Systems dar, das lediglich auf ein tiefgreifenderes Problem im Körper reagiert.

Man kann sich das wie folgendes Bild vorstellen: Ein Fluss, der plötzlich übelriechendes, verschmutztes Wasser in ein Dorf spült, sodass die Bewohner das Wasser direkt vor Ort zu klären versuchen, anstelle sich flussaufwärts auf die Suche nach der Ursache zu machen.

Unsere Energie beginnt mit der Nahrungsaufnahme durch den Darm, wo 70 % unseres Immunsystems liegen. Klingt es dann nicht lohnenswert, sich um den Zustand der Darmgesundheit zu kümmern, bevor an Insulinspritzen, Schlafmittel, Beta-Blocker, Entsäuerungstabletten, Schilddrüsenhormone und Chemotherapeutika gedacht wird? Man kann jeden nur ermutigen, diesen Schritt in Erwägung zu ziehen. Manchmal ist man dann überrascht, was alles möglich wird und wie schnell Medikamente überflüssig werden.

Der mentale Aspekt der Heilung

Was man als Therapeut nicht unterschätzen sollte, ist der mentale Aspekt der Heilung. Um schnell möglichst wieder fit zu werden, muss der Patient auch gesund werden wollen. Für Individualsportler steht das häufig außer Frage, insbesondere wenn sie finanziell vom Sport abhängig sind. Andere hingegen haben keine Eile und lassen sich attestieren, dass sie noch nicht wieder bereit sind.

Hier kann der Therapeut wichtige motivierende Arbeit leisten, damit beide Parteien an einem Strang ziehen und der Rückkehr zur verbesserten Funktion nichts mehr im Wege steht.
 

Bildquelle Header: © YURII MASLAK - stock.adobe.com

Der Autor

  • Homayun Gharavi

    Als Arzt und Sportwissenschaftler blickt Dr. Dr. med. Homayun Gharavi mit unterschiedlichen Blickwinkeln auf Verletzungen. Er arbeitete bereits mit zahlreichen Nationaltrainern aus unterschiedlichen Sportarten zusammen, u. a. Jürgen Klinsmann. Zur Unterstützung seiner Arbeit entwickelte er ein elastisches Schlingentrainingssystem, den 4D PRO Bungee Trainer, mit dem die Alltagsbewegungen (Hocke, Ausfallschritt etc.) unmittelbar postoperativ/posttraumatisch schon ermöglicht werden. Bereits 2003 gründete er die Deutsche Akademie für angewandte Sportmedizin (DAASM), deren Herbstsymposium auf der MEET THE TOP Physio vom 06.10. bis 09.10. auf Mallorca stattfindet.

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