Interview mit Katarina Schickling zu „Physiotherapie – Ein hinkendes System?“

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Katarina Schickling hat in ihrer SWR-Dokumentation „Physiotherapie – Ein hinkendes System?“ einen kritischen Blick hinter die Kulissen eines maroden Systems geworfen. In der Dokumentation versucht sie herauszufinden, warum Physiotherapie in Deutschland oft falsch verordnet wird, teilweise veraltet ist und nicht gut funktioniert. Kristian Kroth hat im BODYMEDIA-Interview mit Katarina Schickling über die Dokumentation und ihre gewonnenen Erkenntnisse gesprochen.

BODYMEDIA: Rollen wir das Thema von hinten auf: Sie werden ins Gesundheitsministerium berufen und sind ab sofort dafür verantwortlich, die Probleme der Physiotherapie zunächst einmal zu identifizieren. Welche drei aus Ihrer Sicht größten Probleme würden Sie vortragen?

Katarina Schickling: Aus meiner Sicht ist das große Problem, dass mit der momentanen Situation alle unzufrieden sind. Die Ärzte klagen immer darüber, dass sie Angst haben, ihre Budgets zu überschreiten und sind deshalb zögerlich mit Verordnungen. In der Physiotherapie wird darüber geklagt, dass die Menschen dort regelmäßig mit Verordnungen konfrontiert sind, die entweder nicht zur Diagnose passen oder nicht zur Praxis, die teilweise sogar wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie man die Fälle behandeln müsste, diametral entgegenstehen.

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Für die Patienten ist das eine sehr unbefriedigende Situation, weil sie sozusagen zwischen den Stühlen sitzen. Sie müssen einerseits darum betteln, ein Rezept zu bekommen, und dann auch noch ein Folgerezept. Andererseits müssen sie sich dann in der Physiotherapiepraxis anhören, dass man mit dem Rezept sowieso gar nichts anfangen kann und sind zuweilen auch gezwungen, Sachen privat zusätzlich zu bezahlen. Das ist einfach nicht wünschenswert.

Bei den Physiotherapeuten kommt noch hinzu, dass sie, wenn sie eine Fachschulausbildung machen, was ja nach wie vor die meisten tun, mit dem Abschluss an dieser Fachschule gar nicht hinreichend ausgebildet sind. Sie müssen dann nochmal für viel Geld teure Fortbildungen belegen, um überhaupt vernünftig praktizieren zu können. An all diesen Punkten sieht man eigentlich schon, dass unser System, wie der Titel meiner Reportage gesagt hat, eindeutig hinkt.

BODYMEDIA: Der Gesundheitsminister gibt Ihnen daraufhin freie Hand, die Ihrer Meinung nach am meisten erfolgversprechenden Lösungsansätze zu initiieren. Voraussetzung wäre aber, dass die positive Veränderung unmittelbar sichtbar wird.

Katarina Schickling: Meines Erachtens gibt es drei Lösungsansätze, die man unterschiedlich schnell umsetzen kann. Die Blankoverordnung, mit der jeder Physiotherapeut so behandeln kann, wie er will, aber es ist weiterhin der Arzt, der verordnet. Das würde aus meiner Sicht schon viele Probleme lösen, weil dann die Entscheidung, welche Maßnahme hier die richtige ist, in die Hände der Leute gelegt würde, die von genau dieser Sache auch am meisten verstehen.

Der nächste Schritt wäre, zur Direktverordnung, zum Direktzugang zu kommen, weil sich einfach international gezeigt hat, dass eigentlich die Reihenfolge bei uns falsch ist. Es wäre sinnvoller, erst zu den Fachleuten für den Bewegungsapparat zu gehen und dann im nächsten Schritt, wenn festgestellt wird, dass es vielleicht doch etwas Schwerwiegenderes ist, zusätzlich die ärztliche Expertise einholt. Dies wäre sinnvoller als die umgekehrte Reihenfolge, wo heute Leute verordnen, die dann meistens von dem, was sie da verordnen, gar nicht so viel Ahnung haben.

Der langfristig wirksamste Schritt wäre aus meiner Sicht eine Vollakademisierung des Berufs, um zum einen für Augenhöhe zu sorgen zwischen Physiotherapeuten und Ärzten und zum anderen sicherzustellen, dass wirklich die maximale Expertise, evidenzbasiert, in die Therapie der Menschen einfließt.

Dass diese positiven Veränderungen sehr schnell sichtbar würden, sieht man daran, dass es ja überall sonst auf der Welt so gehandhabt wird. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von guten Studien, die belegen, dass das weder zu höheren Kosten führt noch zu größeren Problemen. Im Gegenteil, die Patienten sind schneller schmerzfrei.

BODYMEDIA: Nachdem wir ja jetzt gemerkt haben, dass Sie zum Thema Physiotherapie bestens informiert sind, stellen Sie sich doch unseren Lesern kurz vor. Wie kam es denn überhaupt zu Ihren Recherchen in dieser Thematik?

Katarina Schickling: Ich bin Dokumentarfilmerin und das Thema ist an mich herangetragen worden. Ich habe sehr lange darum gerungen, zu verstehen, an welcher Stelle man ansetzen könnte, um dieses hinkende System in den Griff zu bekommen. Und ich habe dann irgendwann Feuer dafür gefangen, als mir klar geworden ist, dass es eigentlich doch vergleichsweise einfache Stellschrauben gibt, an denen man drehen könnte. Eben Blankoverordnung, Direktzugang, Akademisierung, mit denen man viel für die Qualität der Behandlung bei uns tun könnte. Vor dem Hintergrund der immer älter werdenden Gesellschaft ist es, glaube ich, auch wichtig, dass wir da etwas tun.

BODYMEDIA: Was waren Ihre ersten Schritte, als Sie begonnen haben, Ihre Reportage mit Inhalten zu füllen?

Katarina Schickling: Solche Recherchen laufen eigentlich immer sehr ähnlich. Man redet mit wahnsinnig vielen Leuten, man versucht alle entscheidenden Player zu identifizieren. Also die Fachverbände, die Politik, in dem Fall dann eben auch die Ärzte, die ja auch eine entscheidende Rolle spielen. Dann spricht man mit möglichst vielen Menschen, um ein etwas genaueres Bild von der Problematik zu bekommen. Auf diese Weise findet man dann auch Protagonisten. Je länger man mit den Leuten spricht, desto eher merkt man, wer tatsächlich etwas zu sagen hat und wo die Knackpunkte liegen.

BODYMEDIA: Wie kamen Sie an die Therapeuten, die sich offen für ein Interview gezeigt haben?

Katarina Schickling: So bin ich dann eben auch an diejenigen geraten, die sich bei mir im Film geäußert haben.

BODYMEDIA: Hatten Sie bei der Befragung der Therapeuten das subjektive Gefühl, dass Ihre Interviewpartner inhaltlich noch tiefer in den Grauzonenbereich gegangen wären, hätten Sie intensiver nachgefragt? Oder umgekehrt gefragt, gab es vielleicht sogar Äußerungen, die Sie bewusst rauslassen mussten, um die Protagonisten nicht rechtlich angreifbar zu machen?

Katarina Schickling: Ich habe natürlich sehr intensiv nachgefragt und ja, in der Tat bin ich an ein paar Stellen meiner Gespräche an Punkte gestoßen, wo wir Sachen bewusst umformulieren oder ein bisschen weicher formulieren mussten, weil wir in graue Zonen geraten sind, die dann auch für die Beteiligten unangenehm hätten werden können. Detaillierter möchte ich jetzt aus gutem Grund nicht werden, denn auch das hier ist ja jetzt Öffentlichkeit. Es gab ja Gründe, warum wir die Sachen im Film so formuliert haben, wie wir sie formuliert haben.

Was ich aber dazu sagen kann, ist, dass ich es wirklich verblüffend fand, wie großflächig die Therapeuten mir geschildert haben, dass sie sich in der Regel gar nicht an das halten, was verordnet wird. An der Stelle sieht man ja schon, dass das System offensichtlich hinkt. Denn wenn ich ein System habe, das dazu führt, dass Leute gezwungen sind, sich nicht an die Spielregeln zu halten, dann stimmen die Spielregeln nicht.

Für Patienten ist es ein Aufreger, weil man eben feststellt, wie viel schiefläuft. Für die Branche ist es vielleicht ein Anlass, noch mehr darum zu kämpfen, dass die Physiotherapie endlich den Stellenwert bekommt, den sie meines Erachtens haben müsste, und Rahmenbedingungen bekommt, in denen sie auch ordentlich arbeiten kann.

Katharina Schickling redet während einer Vortragsrunde auf dem Kongress von POSITION Health Business
Katarina Schickling zu Gast beim Health Business Congress von POSITION (Bildquelle: © Jörg Halisch)

BODYMEDIA: Sie waren ja auch auf dem Kongress von POSITION Health Business zur Aufnahme eines Live-Podcasts mit Kilian Brätz. Wie war die Veranstaltung insgesamt und die Aufnahme im Speziellen für Sie?

Katarina Schickling: Mir hat die Veranstaltung gut gefallen. Wenn man Fernsehen macht, hat man ja wenig direkten Kontakt zu seinem Publikum. Insofern finde ich es immer sehr schön, wenn man den Menschen, für die man diese Filme macht, dann mal von Angesicht zu Angesicht begegnet. Ich muss sagen, ich war insgesamt, bei dieser Veranstaltung, aber auch generell beeindruckt über die positive Resonanz für diesen Film und über den unglaublichen Rücklauf, den ich hatte.

Es haben sich so viele Menschen bei mir gemeldet, sich bedankt und gesagt haben, endlich sagt es mal jemand und bringt es auf den Punkt. Das fand ich eigentlich selbst schon erstaunlich. Denn meistens kriegen wir vor allem Post von Leuten, die sich ärgern. Dass der positive Rücklauf so groß war, ist für mich ein Zeichen, dass wir da wirklich ein bisschen den Finger in die Wunde gelegt haben und dass es wichtig wäre, wenn da jetzt etwas passiert.

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BODYMEDIA: Abschließend noch eine Frage: Sie haben ein Gespräch mit jungen Menschen, die mit der Ausbildung zum Physiotherapeuten liebäugeln. Was würden Sie diesen mitgeben?

Katarina Schickling: Ich glaube, wer sich für den Beruf Physiotherapie entscheidet, sollte unbedingt studieren. Schon alleine, um sicherzustellen, dass es auch möglich ist, international zu arbeiten. Mit der deutschen Ausbildung geht das immer schlechter, weil eben alle anderen eine Akademisierung haben. Ich glaube auch, dass man sich selbst den Gefallen tut, weil die praktische Ausbildung ja gleich ist, aber man bekommt einfach einen anderen wissenschaftlichen Unterbau, der einem bei diesem Beruf unbedingt helfen kann.

BODYMEDIA: Vielen Dank für das Interview.

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Der Autor

  • Kristian Kroth

    Kristian Kroth begann seine Karriere in der Fitnessbranche 2007 als leitender Angestellter in einer Fitnessstudiokette. 2009 machte er sich mit dem Family Fitness Koblenz selbstständig, das er mit dem Reha-Sport früh in Richtung Gesundheitsanbieter entwickelte.

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