Der Fachkräftemangel in der Physiotherapie ist ein systemisches Problem, das sich nicht durch Kosmetik beheben lässt. Doch warum gibt es so wenig Nachwuchstherapeuten, obwohl der Bedarf steigt? Und wie können Praxen dem Mangel mit innovativen Strategien entgegenwirken?
Ein wachsendes Problem: Zahlen, die alarmieren
Der Fachkräftemangel in der Physiotherapie hat mehrere Ursachen. Einer der wichtigsten Faktoren ist der demografische Wandel. Immer mehr Menschen erreichen ein hohes Lebensalter, was zu einem Anstieg chronischer Volkskrankheiten wie Rückenschmerzen, Arthrose und Osteoporose führt. Allein die Krankheitskosten für Arthrose betrugen im Jahr 2018 rund 10,2 Milliarden Euro. Gleichzeitig scheiden ab 2026 etwa 12 % der Physiotherapeuten altersbedingt aus dem Beruf aus.
Praxen, die ihren Therapeuten die Möglichkeit geben, in akademische Bereiche vorzudringen oder in leitende Positionen zu wechseln, schaffen eine starke Bindung und erhöhen die Attraktivität der Stelle (Bildquelle: © Louis-Photo – stock.adobe.com)
Diese Entwicklung führt dazu, dass Wartezeiten für eine Behandlung schon heute vier bis sechs Wochen betragen können – mit weiter steigender Tendenz. Hinzu kommt, dass die Arbeitsbedingungen in der Physiotherapie oft wenig attraktiv sind. Laut aktuellen Berechnungen arbeiten viele Therapeuten zu einem Stundenlohn von 15 bis 20 Euro – und das in einem Beruf, der körperlich und emotional stark fordernd ist.
Ein großer Teil der Therapiezeit wird in 1:1-Situationen mit den Patienten verbracht, was die Skalierbarkeit der Einnahmen begrenzt. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass immer weniger junge Menschen den Beruf des Physiotherapeuten ergreifen wollen.
Entwicklungsmöglichkeiten sind gefragt
Angesichts dieser Zahlen ist klar: Der Obstkorb im Pausenraum, ein gratis Fitnessstudio-Abo oder eine Zahnzusatzversicherung reichen nicht mehr aus, um qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen und zu halten. Was Therapeuten wirklich wollen, sind Perspektiven. Hier sind einige innovative Ansätze, wie Praxen sich erfolgreich positionieren und den Fachkräftemangel nachhaltig bekämpfen können.
1. Ständige Fortbildung und Karrieremöglichkeiten
Physiotherapeuten möchten sich weiterentwickeln. Daher sollten Praxen ihren Mitarbeitern nicht nur attraktive Arbeitsbedingungen bieten, sondern auch gezielte Fortbildungsmöglichkeiten und klare Karrierewege aufzeigen. Dies bedeutet, dass Fort- und Weiterbildungen in modernen Therapieansätzen gefördert werden, sodass Therapeuten die Möglichkeit haben, sich in Richtung Spezialisierung oder Management weiterzuentwickeln.
Ein höherer Bildungsgrad trägt dazu bei, das Berufsbild des Physiotherapeuten deutlich attraktiver zu gestalten. Praxen, die ihren Therapeuten die Möglichkeit geben, in akademische Bereiche vorzudringen oder in leitende Positionen zu wechseln, schaffen eine starke Bindung und erhöhen die Attraktivität der Stelle. Der Wunsch nach ständiger Weiterbildung und akademischer Anerkennung ist insbesondere bei jüngeren Fachkräften ausgeprägt.
2. Kombination von Physiotherapie und medizinischem Training
Ein weiterer Ansatz, um die Attraktivität des Berufs zu steigern und den Fachkräftemangel zu bekämpfen, ist die Integration von medizinischem Training in den Praxisalltag. Die Kombination aus aktiver und passiver Therapie ermöglicht es, die Patienten nicht nur akut zu behandeln, sondern auch langfristig zu betreuen. Dies schafft nicht nur vielfältigere Aufgaben für die Therapeuten, sondern steigert auch den Therapieerfolg. Praxen, in denen Patienten parallel aktive und passive Therapiemaßnahmen erhalten, können ihre Einnahmen steigern.
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Bei aktiven Therapiemaßnahmen können meist mehrere Patienten gleichzeitig betreut werden, wodurch höhere Umsätze erzielt werden. Ein Beispiel: In KGG-Gruppentrainings können Gruppentherapien mit bis zu drei Patienten pro Therapeut durchgeführt werden, was allein bei gesetzlich Versicherten bereits Stundenumsätze von aktuell bis zu 156 Euro ermöglicht. Die Preisspanne bei Privatversicherten ist meist wesentlich höher. Nicht zuletzt profitieren auch Patienten von einem ganzheitlichen Ansatz, was zum nächsten Vorteil überleitet.
3. Patient Compliance steigern
Ein zentraler Erfolgsfaktor für eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit in der Physiotherapie sind das Verständnis und die aktive Mitwirkung der Patienten an ihrem Heilungsprozess. Therapeuten, die mit gut informierten und motivierten Patienten arbeiten, erleben weniger Frustration und mehr Erfolgserlebnisse. Daher sollten Praxen verstärkt auf die Aufklärung und Einbindung der Patienten setzen.
Es sollten Fort- und Weiterbildungen in modernen Therapieansätzen gefördert werden, sodass sie sich in Richtung Spezialisierung oder Management weiterzuentwickeln (Bildquelle: © Louis-Photo – stock.adobe.com)
Patienten, die verstehen, dass ihre aktive Mitarbeit entscheidend für den Therapieerfolg ist, sind nicht nur zufriedener, sondern erleichtern auch die Arbeit der Therapeuten. Detaillierte Haltungsanalysen und effektive Lösungsansätze sind ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Erst wenn ein Patient sieht, dass beispielsweise eine seiner Schultern höher steht als die andere und sein Kopf immer auf eine Seite geneigt ist, wird ihm klar, warum die Nackenverspannungen immer wieder auftreten.
Diese Patienten sind auch eher bereit, aktiv etwas zur Therapie beizutragen und Verantwortung zu übernehmen.
4. Digitalisierung: Mehr Effizienz, weniger Verwaltung
Neben der Fortbildung und der Patientenaufklärung ist die Digitalisierung ein entscheidender Hebel, um den Fachkräftemangel zu bekämpfen. Praxen, die auf digitale Lösungen setzen, können nicht nur ihre internen Prozesse effizienter gestalten, sondern auch moderne Arbeitsplätze schaffen, die für junge Fachkräfte attraktiv sind. Die Digitalisierung beginnt bei der Online-Terminvergabe und reicht bis hin zur vollständigen digitalen Haltungsanalyse sowie automatisierten Dokumentation und Berichterstellung.
Besonders in Zeiten des Fachkräftemangels bietet die Telemedizin eine Möglichkeit, Patienten auch in ländlichen Gebieten oder bei eingeschränkter Mobilität zu betreuen. Dabei können Therapeuten über Videokonferenzen mit ihren Patienten arbeiten und so auch außerhalb der Praxis Unterstützung bieten.
Fazit: Zukunftssicherung durch innovative Konzepte
Der Fachkräftemangel in der Physiotherapie wird sich nicht durch kurzfristige Maßnahmen lösen lassen. Um langfristig erfolgreich zu rekrutieren, müssen Praxen innovative Wege gehen und Therapeuten echte Perspektiven bieten. Die Kombination aus ständiger Fortbildung, der Integration von medizinischem Training und einer verstärkten Patientenbindung durch Aufklärung und digitale Lösungen ist dabei entscheidend.
Praxen, die sich auf diese Weise zukunftssicher aufstellen, werden nicht nur den Fachkräftemangel mit Bravour meistern, sondern auch ihre Position im Gesundheitswesen stärken. Denn am Ende des Tages zählt nicht der Obstkorb oder der Tankgutschein.
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