Das Wichtigste in Kürze
- Die KI wird aktuell vor allem für die Vor- und Nachbereitung von Behandlungen genutzt. Sie entlastet Physiotherapeuten administrativ, indem Patientensessions dokumentiert werden, und liefert schnellen Zugriff auf klinisches Wissen in Form strukturierter Antworten, evidenzbasierter Empfehlungen sowie passender Ressourcen wie Podcasts oder Research Reviews.
- Damit die KI sinnvoll genutzt werden kann, ist es entscheidend, die richtigen Informationen und ausreichend Kontext einzugeben, damit die Antworten präzise und hilfreich sind.
- Zukünftig soll die KI stärker personalisiert arbeiten, den Fortschritt von Patienten überwachen und auf Basis von Bewegungs- und Outcome-Daten individuelle Empfehlungen für Therapieentscheidungen geben.
- Wichtiger Hinweis: Die KI ersetzt den Therapeuten nicht, sondern dient als intelligentes Hilfsmittel. Die erhaltenen Informationen sollten dabei immer mit dem eigenen Wissen gegengeprüft werden.
BODYMEDIA: Andreas, ihr bietet einen KI-Assistenten für Physiotherapeuten an. Wie kam es dazu?
Andreas Heck: Ich ging 2012 in die Niederlande, um meinen Physiotherapie-Bachelor in Amsterdam zu absolvieren. Die erste große Hürde während des Studiums war für mich das Lernen der orthopädischen Assessments. Damals waren der Status quo und unser Leitfaden David J. McGees Orthopedic Physical Assessment. Das ist ein Buch, das hat, glaube ich, mittlerweile 1.600 Seiten und wurde uns als die Bibel angepriesen.
Für mich als junger Student, der schon in der Schule sehr viel Zeit auf YouTube verbracht hat und 2010, 2011 auch dort Privatvideos hochgeladen hatte über nicht physio-relevante Tutorials, war das wenig zufriedenstellend. Damals habe ich die Erfahrung gemacht, dass, wenn man ein Problem für sich selbst löst, es zigtausende Menschen weltweit gibt, die dasselbe Problem haben und auch auf der Suche nach einer Lösung hierfür sind.
Und so war es dann auch in der Physiotherapie für mich. Denn ja, das Lernen all dieser Tests war sehr zeitaufwendig und für mich war das Buch nicht das richtige Medium, um diese Techniken zu lernen. Also habe ich auf YouTube geschaut, was es dort für Inhalte oder Tutorials gibt, die mir diese Tests erklären. Und ich habe dort eben nicht das gefunden, was ich wollte: prägnante, strukturierte, evidenzbasierte Erklärungen.
Und dann habe ich gesagt: Hey, das können wir selbst als Studenten besser. Da war ich noch im ersten Semester. Also zwei Monate, nachdem ich das Studium angefangen hatte, habe ich dann zu meinem Mitbewohner Kai, auch Mitbegründer von Physiotutors, gesagt: „Hast du Lust, Videos über die Dinge, die wir lernen, aufzunehmen?“
Im Laufe der Jahre ist eben der YouTube-Kanal im Umfang und auch in der Varietät der Inhalte gewachsen und später dann auch über die Grenzen von YouTube hinaus. Und nun sind wir beim Thema KI angekommen, was die Vielseitigkeit unseres Angebots weiter ergänzt.
BODYMEDIA: Wie würdest du aus deiner Sicht den Stand von KI in der Physiotherapie aktuell bewerten?
Andreas Heck: Aktuell sehe ich das Hauptanwendungsfeld für KI in der physiotherapeutischen Praxis in der administrativen Entlastung und der besseren Informationsverarbeitung. Also z. B. automatische Transkriptionen und Dokumentation von Patientensessions. Das gehört zu den größten Lasten des Physioberufs und da die Tage meistens recht voll sind, hat man oftmals keine Zeit mehr für das Dokumentieren für die Patientenakte.
KI hilft dabei, die Patientengespräche akkurat zu transkribieren und zu formatieren, sodass sie dann in die elektronische Patientenakte eingefügt werden können. Das spart natürlich Zeit, die viele Therapeuten im klinischen Alltag nicht haben, und reduziert eine gewisse kognitive Belastung.
Ein weiterer Einsatzbereich ist der Zugriff auf Wissen. Musste man früher physisch in Büchern nachschlagen oder sich alles in einer Google-Recherche zusammensuchen, bietet KI heute strukturierte Antworten auf klinische Fragestellungen. Das ist auch der Bereich, auf den wir uns bei Physiotutors konzentrieren, indem wir einen KI-Assistenten zur Verfügung stellen.
So kann die Interaktion mit einem KI-Assisstenten in der Praxis aussehen (Bildquelle: © wichayada – stock.adobe.com)
BODYMEDIA: Wie können klinische Assistenten sinnvoll in der Physiotherapie eingesetzt werden?
Andreas Heck: Aktuell sehe ich klinische Assistenten noch nicht in der Realtime-Anwendung direkt in der Therapie, sondern als Vor- oder Nachbereitung einer Behandlung, aber mit kontextrelevanten Informationen. Mit der Beschreibung des Patienten und seiner Beschwerden bekomme ich zielgerichtetere und klare Antworten. Je besser der Therapeut mit dem KI-Assistenten umgehen kann, desto hilfreichere Antworten erhält er auch.
Aber genauso wie für ein erfolgreiches Googeln oder eine zielführende Suche auf PubMed ist auch hier ein gewisser Skill notwendig, um zielführende Antworten zu bekommen. Wir sehen, natürlich anonymisiert, wie Leute mit unserem Tool umgehen. Und da sehen wir noch viel Verbesserungsbedarf auf der Anwenderseite.
Oft sind es nur drei Worte, die eingegeben werden – das reicht nicht aus, um eine qualifizierte Antwort zu bekommen. Je mehr Kontext die KI erhält, desto bessere Antworten kann sie geben. Die KI ist sehr intelligent, kann aber keine Gedanken lesen.
BODYMEDIA: Wie funktioniert das konkret?
Andreas Heck: Im Endeffekt ist es ein Chatbot, in den der Therapeut seine Frage eintippt oder diktiert und von der KI eine Antwort erhält. Und mittlerweile verweist die KI dann auch intelligent auf Inhalte innerhalb unserer Plattform. So können sich die Therapeuten noch tiefer in das Themengebiet einarbeiten.
In der Praxis sieht das so aus: Ich habe z. B. einen Patienten mit einer insertionellen Achilles-Tendinopathie. Dann gebe ich der KI Informationen wie Symptome oder die aktuelle Kapazität in der Belastung. Und dann gibt mir die KI eine Antwort basierend auf klinischen Richtlinien über Tendinopathie-Behandlungen, aber dann eben auch zum Beispiel einen themenrelevanten Podcast, den wir aufgenommen haben, oder ein Research Review oder eine Masterclass, die man sich dann zur Vertiefung anschauen kann.
Da die Antworten aktuell auf Grundlage von Leitlinien gegeben werden und wir keine Schnittstelle zu einer Datenbank haben, werden keine Übungen ausgegeben, sondern Informationen genereller Natur.
Die Therapeuten haben eine so große Vielfalt an Patienten und Beschwerden, die sie sehen. Da kann ein KI-Assistent helfen, das für den Therapeuten einzuordnen und erste Hinweise zu geben, wie es von jetzt an weitergehen kann. Da dieser die Form eines Chats hat, muss ich nicht immer bei Google nach Symptomen suchen, denn dort erhalte ich eine Liste von Differenzialdiagnosen, aber nicht, wie diese getestet werden können.
Der entscheidende Vorteil der Chat-Funktion ist, dass die KI den Gesprächsverlauf nicht vergisst. So kann der Therapeut mit gezielten Nachfragen alle nötigen Informationen erhalten und wird Schritt für Schritt von der Differenzialdiagnose zu den richtigen Screening-Fragen und Tests geführt.
Es ist nicht davon auszugehen, dass die KI den Therapeuten ersetzt (Bildquelle: © ReadyAtTheEase/peopleimages.com – stock.adobe.com)
BODYMEDIA: Wie kann die Zukunft von KI-Assistenten aussehen?
Andreas Heck: Zukünftig können die Daten auf Basis von Outcome-Tracking stärker personalisiert werden, sodass die KI den Fortschritt des Patienten beobachten und auf Grundlage dessen Empfehlungen für den Therapeuten geben kann. Man sieht ja öfter die Schlagzeile, dass KI irgendwann den Therapeuten ersetzen wird. Davon gehe ich Stand jetzt nicht aus.
Vielmehr denke ich, dass gerade in der Diagnose und im Screening die KI sehr viel Arbeit ersetzen oder zumindest auch erleichtern kann. In der Behandlung sehe ich das als eher schwierig, denn nach wie vor sind in der Behandlung zwischenmenschliche Faktoren sehr entscheidend. Und klar funktioniert auch Telemedizin, aber da ist meistens der Mensch noch irgendwo involviert.
Also ich sehe schon auch das Potenzial, dass eine KI nicht nur wie jetzt ein Chatbot ist, der einen Datensatz hat und darauf basierend generelle Informationen gibt. Es ist zu erwarten, dass eine KI viel näher an einem einzelnen Patienten dran ist und eine multimodale Analyse z. B. anhand von Bewegungsdaten ermöglicht. Auf Grundlage dieser Daten können personalisierte Empfehlungen ausgesprochen werden. Das wäre auch schon mal ein guter Weg.
Wir müssen auch als Disclaimer sagen und das steht auch fest verankert in unserem Chat, dass eine KI immer noch Fehler machen kann. Daher sollte man ihr nicht blind vertrauen. Letztlich ist die KI ja ein technologisches Wunder. Ich denke, wir leben in einer Zeit, die vergleichbar mit der Erfindung des Internets ist.
Und ich sehe sowohl in meinem privaten Umfeld als auch im Umgang mit unserem Assistenten oder anderen KIs, dass viele Nutzer sich auf die ausgegebenen Informationen blind verlassen. Daher hier noch mal der Appell, die Informationen mit dem eigenen Wissen gegenzuprüfen und zu entscheiden, wie man mit der erhaltenen Antwort umgeht.
BODYMEDIA: Wie geht es bei euch weiter?
Andreas Heck: Wir haben jetzt eine Gruppe Bachelorstudenten aus Herlen, die den Physiotherapie-Bachelor machen und gerade ihre These über die Nutzung von KI in der Physiotherapiepraxis schreiben, sodass diese jetzt unser Tool ausgiebig in der Praxis testen werden. Und ja, wir erhoffen uns davon, qualitative Erkenntnisse bzgl. des Nutzungsverhaltens der Therapeuten zu gewinnen.
BODYMEDIA: Vielen Dank für das interessante Interview!
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