Physiotherapie

Immer im Einsatz aber wenig gepflegt – Therapeutenhände in Not

Täglich helfen Physiotherapeuten Menschen deren Schmerzen zu lindern, weshalb unsere Hände oft als „golden“ bezeichnet werden. Was würde passieren, wenn diese Hände ihre Arbeit nicht mehr verrichten könnten? Was wäre, wenn dadurch die Berufsfähigkeit eingeschränkt oder gar gänzlich verloren gehen würde?

Bereits jeder dritte Behandler leidet nach zwanzigjähriger Berufstätigkeit unter Hand- und/ oder Fingergelenksschmerzen. Dabei sind die Betroffenen häufig nicht älter als vierzig Jahre. Wie kann es dazu kommen, dass ausgerechnet Physiotherapeuten, die sich laufend mit der Entstehung, Vermeidung und der Therapie von Schmerzen beschäftigen, so häufig selbst zu Leidtragenden werden? Zum einen liegt es vermutlich an der Neigung aller therapeutischen Berufsgruppen, sich mehr um andere zu kümmern, als um sich selbst. Zum anderen fallen Krankheitsbilder wie M. Dupuytren, Rhizarthrosen oder postoperative Carpaltunnelsyndrome eher in das Behandlungsfeld der Ergotherapie und landen deshalb nur selten beim Physiotherapeuten. Kein Wunder also, dass die Hand nur stiefkindlich Beachtung findet. 

Pathologien und deren Folgen
Kontinuierliche unergonomische Belastungen von Hand- und Fingergelenken führen rasch zu Überlastungssyndromen erst in den Weichteilen, später im Gelenkbereich in Form von Arthritiden. Neben Abnutzungen in den DIP’s zählen Rhizarthrosen zu den häufigsten Degenerationen an den Händen. Auch das Carpaltunnelsyndrom, Tendinitiden und Tendovaginitiden sind die Folge von mechanischer Überbeanspruchung. Bei der Rhizarthrose spielen außerdem eine erbliche Vorbelastung und vermutlich auch hormonelle Dysbalancen eine Rolle. Frauen leiden häufiger darunter als Männer und während das Durchschnittsalter für erste Symptome im sechsten Lebensjahrzehnt liegt, beginnt das Leiden von vielen Physiotherapeutinnen weit früher. Ein Schmerz im Thenarballen nach einem langen Arbeitstag verschwindet über Nacht wieder. Abspülen in warmen Wasser und Traktionen mit Weichteiltechniken in Selbstanwendung lindern die Beschwerden und erleichtern das Verdrängen der beginnenden Problematik. Erst, wenn Erholungsphasen und Eigentherapie keine nachhaltige Wirkung mehr zeigen, und der Schmerz von wimmernd zu einem lähmenden Stechen wird, wenn es Schwierigkeiten bereitet einen vollen Teller mit einer Hand zu tragen oder den Hausschlüssel im Schloss zu drehen, muss sich der Therapeut  mit dem Thema „Arbeitsunfähigkeit“ auseinanderzusetzen.

Das gleiche gilt für Sensibilitätsstörungen in Händen und Fingern, ausgehend von einer Enge im Carpaltunnel, Faszienlogen oder im Spinalkanal. Eine plötzliche Kraftlosigkeit macht einen unbeschwerten Behandlungsalltag unmöglich. Schmerzende Therapeutenhände sind generell ein Tabuthema, könnte doch die Behandlungsqualität vom Patienten oder die Arbeitskraft vom Arbeitgeber in Zweifel gezogen werden. Welchen Belastungen Therapeutenhände bei verschiedenen Behandlungstechniken permanent ausgesetzt sind, lässt sich am Aufbau und der Biomechanik der Hand anschaulich erklären. 
 


Die Behandlung der Hände fällt eher in das Feld der Ergotherapie, weswegen sie in der Physiotherapie nur stiefkindliche Beachtung findet

 

Funktionelle Anatomie und Biomechanik der Hand
Liegt eine Hand entspannt, zeigt sie eine Gewölbe- oder Kuppelform. Der höchste Punkt entsteht am Grundgelenk des MCP III. Das Längsgewölbe wird von den Langfingern, den Os metacarpale II-IV gebildet. Durch die Keilform der Handwurzelknochen formt sich in der Transversalebene das Quergewölbe. Ein  Gewölbe verleiht Körpern immer Stabilität. Bögen nehmen Spannungen auf und machen Bauteile belastbarer, als diese per se wären. Beispiele finden sich in der Natur und Architektur zu Hauf. Im Handgelenk bildet das Os capitatum das ruhende Zentrum. Mehrschichtige Bandsysteme verspannen und verstärken das Gewölbekonstrukt zu einem dynamischen, funktionellen Ring, wie in einer Kuppel. Das querverlaufende Retinaculum flexorum bietet zusätzlich Durchlass für sensible Strukturen. 

Zwischen dem MCP I und dem MCP V befindet sich der Querbogen, in dem die Oppositionsbewegung um die Achse des mittleren Strahls stattfindet. Geführt und koordiniert wird die Opposition von den beiden begrenzenden Polen, dem Daumensattelgelenk und der Kleinfingerseite. Das Daumensattelgelenk zeichnet sich durch eine enorme Beweglichkeit in allen Richtungen des Raumes aus, weshalb es auch als „mobiler Pol“ gilt. Es wird durch das Os metacarpale I und das Os trapezium gebildet. Durch das große Bewegungsausmaß und eine ausgeklügelte ligamentäre Führung ist es möglich, alle anderen Finger zu erreichen und somit präzise zu greifen. Während das Daumensattelgelenk Flexions-,Extensions-, Abduktions- und Adduktionsbewegungen zulässt, findet die Opposition und Repositionsbewegung mehr als Roll-Gleiten zwischen Os scaphoideum und Os capitatum statt. Eine solide Basis für die achsengerechte Führung einer jeden Greif-
bewegung gewährleistet das Gleiten der Gelenksverbindung Os trapezium-Os trapezoideum, welches auf das Os metacarpale I übertragen wird. 

Dem „mobilen Pol“ liegt der „stabile Pol“ gegenüber, die Kleinfingerseite. Sie zeichnet sich sowohl skelettär durch eine stabile Gelenkverbindung, als auch ligamentär durch straffere Bandverbindungen aus. Die Basis des Os metacarpale V ist rollenartig angelegt und ermöglicht somit eine, wenn auch geringe, Rotationsbewegung des fünften Fingers. Im Vergleich zur Radialseite der Hand, weist die ulnare Seite qualitativ und quantitativ weniger Muskulatur auf. Eine Besonderheit bilden angelegte Bandsysteme, die v-förmig über mehrere Gelenkverbindungen sowohl palmar, als auch dorsal verlaufen. 

Initiiert durch das Einrollen der Kleinfingerseite, richten diese Verstrebungen das Quergewölbe über den Metacarpus dynamisch auf. Diese Zugspannung reicht bis zur Radialseite und limitiert damit zwar die Mobilität des Daumens, bildet aber dafür bei Greifaktivität, ein stabiles Fundament. Das Zusammenspiel der beiden Pole hat auf die Funktionalität der Hand also einen großen Einfluss in Bezug auf Stabilität und Mobilität. Neben den skelettären und ligamentären Strukturen spielt auch im Bereich der Hand- und Fingergelenke das myofasziale Organ eine tragende Rolle. Jede Überbelastung produziert Spannung im System, welche sich auf benachbarte Bereiche überträgt. In der Praxis setzt sich eine Hypertension, an der Radialseite der Hand beginnend, über fasziale Züge am Unterarm, Oberarm und letztlich der Halswirbelsäule fort. Dies alles baut sich über neurologische Afferenzen und Efferenzen auf, ist also per se kein mechanisches Phänomen. Eine Beeinträchtigung des myofaszialen Organs im cervicalen Bereich bedingt wiederum eine Afferenzstörung nach distal in Richtung Arm. Ein Kreislauf aus Hypertension und schmerzbedingter Fehlhaltung beginnt. 
 


Das rhythmische Mitbewegen des Handgelenks sorgt für einen Spannungsausgleich im myofaszialen Organ, das Lot wird beim Richtungswechsel durchlaufen


Der Lotdurchgang
Das Lot beschreibt einen statisch ausgewogenen Zustand. Da sich unser Leben aber dynamisch und selten statisch gestaltet, wurde in Zusammenhang mit dem KLINEA-Konzept und dem Knotenmodell der Begriff des „Lotdurchganges“ geschaffen („Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen“, Springer 2019). Dabei handelt es sich um Bewegungsvorgänge, die das Lot im Kontext zum Raum immer wieder durchlaufen. Ein Tennisspieler beispielsweise, der durch mangelnde Spieltechnik mit viel Anstrengung den Arm nicht locker immer wieder durch das Lot schwingt, erfährt in seinem myofaszialen Organ keine Entspannung. Der Lotdurchgang ist also ein Moment kurzer Entspannung während der Dynamik einer Bewegung. 

Auch wenn diese nur für einen Moment aber regelmäßig stattfindet, sinkt hierdurch das Risiko einer mechanischen Überbelastung bedeutend. Ein weiteres Beispiel soll diesen Prozess veranschaulichen. Beim Streichen einer Wand mit einem Pinsel sorgt ein starres, verkrampftes Handgelenk für eine Hypertension der faszialen Kette nach proximal fortlaufend. Diese kontinuierliche rezidivierende Belastung führt –gepaart mit homöosthatischen Effekten pathologischen Efferenzen- zu Überbeanspruchung schwächerer Strukturen in der myofaszialen Spannungskette. Das Resultat sind dann Epicondylitiden oder Tenovaginitiden. Erfolgt die Streichbewegung jedoch geübt, locker und dynamisch wird bei jeder Streichbewegung der Lotdurchgang durchlaufen. So kommt es selbst bei langer, kontinuierlicher Arbeit nicht zu Überlastungssyndrome. Es gilt: je geschmeidiger und ästhetischer eine Bewegung erscheint, desto wahrscheinlicher ist das regelmäßige Durchlaufen des Lotdurchgangs. Dieses Prinzip gilt selbstverständlich auch für manuelle Behandlungen am Patienten. 

 


links: Abhebegriff mit eingerollter Kleinfingerseite, um das Daumensattelgelenk zu stabilisieren / rechts: Einrollen und einklemmen der Kleinfingerseite

 

Praktische Tipps für Therapeuten
Neben der Körperhaltung sollte jeder Therapeut während einer Behandlung auch seine Hand- und Fingerposition analysieren und gegebenenfalls korrigieren. Die Kompression auf den Knorpel und die Zugbelastung auf den Bandapparat der Fingergelenke unter unergonomischen Bedingungen, wird gerade von jungen Kollegen unterschätzt. Axiale und koaxiale Zug- und Scherkräfte mögen zunächst nicht als unangenehm oder gefährdend empfunden werden, die Summe der Belastung im Laufe der Jahre, fordert jedoch häufig ihren Tribut. Das bei Frauen oft hypermobile Handgelenk sollte nicht wie bisher angenommen durch starre Unbeweglichkeit an Stabilität gewinnen, sondern entspannt dem Bewegungsrhythmus folgen, vergleichbar mit der oben beschriebenen Streichbewegung. Ansonsten verursacht eine Hypertension der Unterarmfaszien rezidivierende Blockaden der Handwurzelknochen. Das Durchlaufen von Funktionsketten, wie die Kombination aus Dorsalextension, ulnarer Abduktion und Pronation zur Palmarflexion, radialer Abduktion und Supination, entspricht der Biomechanik des Handgelenks. Der dabei passierte Lotdurchgang bewirkt eine kurze aber effektive Entspannung im myofaszialen Organ der Extremität, welche sich bis in den cervicalen und oberen thorakalen Bereich fortsetzt. 

Unsere Fingergelenke: Wie viel Zug und Druck können sie täglich standhalten?
Während beim Tastbefund am Patienten kaum Kraft aufgewendet werden muss, sind therapeutische Maßnahmen i.d.R. anstrengend. Deshalb sollte sich jeder Therapeut die Frage nach Erleichterung stellen. Eine Möglichkeit bieten Behandlungstools. Da die meisten davon jedoch aktiv gehalten werden müssen, bieten sie kaum Entlastung. Im Idealfall nimmt die Behandlungshilfe den Druck von den Fingergelenken und unterstützt die Gewölbefunktion des Carpus an der Hand. Zu diesem Zweck wurde der „KLIMMI“ entwickelt. Dieses unscheinbare, handliche Produkt aus medizinischen Silikon haftet durch Adhäsion an der flachen Seite in der trockenen Führungshand des Therapeuten. Das Material gewährleistet mit etwas Übung den Erhalt der Sensitivität des Behandlers, im Gegensatz zu Holz oder Metall. Bei punktuellen Techniken liegt die „Nase“ des KLIMMIs in Richtung Unterarm des Therapeuten und unterstützt während der Behandlung die physiologische Gewölbefunktion der Hand. Die Belastung der Fingergelenke entfällt und der erforderliche Druck baut sich gleichmäßig über eine Verlagerung des Körpergewichts vom Rumpf ausgehend über den Arm bis zum Handgelenk auf. Durch diese „Nasenform“ des KLIMMIs sind sowohl punktuelle als auch flächige Behandlungen möglich. Beliebte Manuelle Grifftechniken sind zum Beispiel Schiebetechniken, vorwärts oder seitwärts angewendet. Hierfür verwenden Therapeuten am häufigsten die Fingerbeeren II-IV, das PIP II oder den Daumen. Auch der Kneif- und Abhebegriff sowie Rolltechniken finden bei der Mobilisation des Bindegewebes Anwendung. Bei anderen Techniken, wie der Kneif-, Abhebe- oder Rolltechnik ist der 
Einsatz einer Behandlungshilfe kaum sinnvoll. Hier nutzt der Therapeut das bipolare Zusammenspiel von Kleinfingerseite und Daumen. Um dem Daumensattelgelenk mehr Stabilität zu geben, wird die Kleinfingerseite während der manuellen Technik eingerollt. Folgender Test soll das Prinzip verdeutlichen: Legen Sie Ihre ulnare Handkante auf einen Tisch, Daumen nach oben. Beschreiben Sie nun mit dem Daumen einen Kreis. Der Radius ist groß, die Bewegung fühlt sich 
aber holprig und unrund an. Klemmen Sie nun den kleinen Finger und wenn möglich noch den Ringfinger in die Handinnenfläche. Wiederholen Sie nun den Test. Der beschriebene Kreis nimmt im Radius zwar ab, die Bewegung gestaltet sich dafür geführter und sicherer. 

 


links: Die „Klimminase“ ermöglicht eine punktuelle Behandlung im faszialen Gewebe / rechts: Quer in der Handfläche des Therapeuten liegend, erlaubt der KLIMMI eine flächige Anwendung


Häufig angewendete Grifftechniken und gelenkschonende Alternativen
Manuelle Behandlungen, vor allem im Bereich des Bindegewebes, werden mit unterschiedlichen Grifftechniken durchgeführt:

  • Schiebetechnik: dieser Griff wird in unterschiedlichen Richtungen, häufig mit den Fingerbeeren II-V, dem PIP II oder dem Daumen durchgeführt (als flächige oder punktuelle Technik möglich). Hierbei wirken Scher- und Zugkräfte auf sämtliche Fingergelenke und deren Bandapparat. Der Knorpel wird durch Kompression auf Dauer geschädigt.

Gelenkschonende Variante: Mit dem Einsatz einer Behandlungshilfe, z. B. den KLIMMI, werden alle Fingergelenke entlastet. Die Anwendung ist durch die spezielle Form punktuell („Klimminase“) und flächig („Klimmikante“) möglich.

  • Kneifgriff: besonders das Daumensattelgelenk wird bei dieser Technik massiv belastet. Therapeuten, denen der Daumensattel bereits Beschwerden bereitet, können diese Technik häufig nicht mehr durchführen.
  • Abhebe- und Rolltechnik: hier gilt das gleich wie für den Kneifgriff. Das Daumensattelgelenk kann ohne Unterstützung nicht die notwendige Stabilität aufbringen.

Gelenkschonende Alternative: Um die Stabilität des Daumensattelgelenks zu gewährleisten, muss sich der Carpus als Gewölbe aufspannen. Hierzu nutzt der Therapeut das bipolare Zusammenspiel von Daumen- und Kleinfingerseite. Wie im o.g. „Daumenrolltest“ beschrieben, klemmt sich der Behandler den kleinen Finger in die Handfläche und führt anschließend die Behandlungstechnik aus. 

Fazit
Um sich als Physiotherapeut präventiv gegen Schmerzen und arthrotischen Veränderungen zu schützen, muss der Fokus neben der Körperhaltung auf Hand- und Fingergelenke gerichtet werden. Während das Handgelenk locker in biomechanischen Funktionsketten den Bewegungen folgen soll, werden die Fingergelenke wo immer es geht mit einem Behandlungstool entlastet. Sollte bei einer Technik eine Behandlungshilfe nicht in Frage kommen, bietet das Einrollen der Klein-
fingerseite über die Gewölbebildung des Carpus, Halt und Stabilität. Mein Team und ich arbeiten seit vielen Jahren mit diesen Tricks, was sich für alle bestens bewährt.
 

Die Autorin

  • Kerstin Klink

    Kerstin Klink ist seit über 20 Jahren Physiotherapeutin und betreibt seit 17 Jahren eine eigene Praxis mit aktuell 13 Thera­peuten. Das Thema gelenkscho­nende Therapie ist ihr nicht zuletzt durch ihre eigene Geschichte sehr wichtig geworden. Zu diesem The­ma hält sie Vorträge an Physiotherapieschulen. Im Oktober 2019 erschien das Buch „Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörun­gen“, bei dem sie als Coautorin mitwirkte. Ihr eigenes Buch er­scheint im September 2020 bei Springer. Weitere Informationen unter www.myofaszial.de

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