Physiotherapie

Die motorische Leistungsfähigkeit steigern mit Jymmin

Die Erforschung der emotional-motorischen Kontrolle gewinnt immer mehr an Relevanz, da hier ein neuer Schlüssel zur Steigerung motorischer Leistungsfähigkeit liegen könnte. Während bisher vor allem das willkürmotorische System im Fokus der neurologischen Rehabilitation stand, zieht nun ein zweites, motorisches Kontrollsystem das Interesse der Forscher auf sich.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Es gibt zwei Hauptsysteme der motorischen Kontrolle, die sich ergänzen: die Willkürmotorik und die emotional-motorische Kontrolle.
  • Nach einem Schlaganfall ist die Willkürmotorik oft gestört, das emotional-motorische System bleibt jedoch intakt.
  • Eine gezielte Stimulierung der emotional-motorischer Kontrolle bei physiotherapeutischen Interventionen kann die Rehabilitation bei neurologischen Störungen verbessern.
  • Die Stimulation kann durch die Kombination von körperlicher Anstrengung und Musikmachen im Rahmen der Therapieform "Jymmin" erfolgen.

In der Forschung gehen wir am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig der Frage nach, wie durch die Kombination von musikalischer Expression und Anstrengungserfahrung die emotional-motorische Kontrolle der Motorik stimuliert werden kann, um nach Neurodegeneration Defizite in der Willkürmotorik zu kompensieren, motorische und kognitive Funktionen wieder zu optimieren, Menschen mit Defiziten in der emotionalen Verarbeitung Emotionen körperbezogen wieder erleben zu lassen.

Zwei Systeme

Neurologisch kann man zwei Hauptsysteme der motorischen Kontrolle unterscheiden: die Willkürmotorik und die emotional-motorische Kontrolle. Zu dieser zählen auch autonom motorische Funktionen. Die Willkürmotorik ist evolutionär betrachtet eine Neuerung. Sie trägt viel zu unserer Unterscheidung von anderen Tierarten bei. Wir können über sie jederzeit unsere Muskeln ansteuern.

Die emotional-motorische Kontrolle teilen wir hingegen mit anderen Tieren und sie ist das eigentliche Hochleistungssystem für die Steuerung dynamischer Abläufe. Auf dieses System haben wir jedoch nicht immer Zugriff. Nur in Situationen mit sogenannter „ecological validity“, bei einem bestimmten Grad an „Authentizität“, haben wir die Möglichkeit, auf diese Ressource zuzugreifen.


Das Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig (Bildquelle: © MPI CBS)

Unsere Sprachmelodie wird hauptsächlich durch die emotional-motorische Kontrolle gesteuert1. Jeder kennt den Effekt von sich selbst: Wenn man besonders begeistert ist von etwas, dann „geht man eher darin auf“, man vergisst die Zeit und es kommt einem weniger anstrengend vor: Die Leistung steigt.

Dualer Zugriff

Auf viele Muskeln gibt es einen sogenannten dualen Zugriff beider Systeme. Bei einem gesunden Nervensystem kooperieren beide motorische Kontrollsysteme und ergänzen sich. Bei einer Störung der Kooperation beider Systeme gibt es schlimmstenfalls einen Konflikt um den Zugriff auf die Muskeln. Sie „verspannen“ oder die Entstehung von Spastik wird begünstigt.

Nach einem Schlaganfall ist die Willkürmotorik besonders oft gestört, sodass der Betroffene Schwierigkeiten hat, selbst einfache Bewegungsmuster einzuleiten und präzise durchzuführen. Hier setzt die Neurorehabilitation an. Einen Schlaganfall im emotional-motorischen System überlebt man üblicherweise nicht, da dieses System auch unser „Arousal“-System inklusive vitale Funktionen wie die Atmung steuert.

Das erklärt, warum ein Überlebender eines Schlaganfalls üblicherweise Schädigungen in der Willkürmotorik hat, dafür aber ein eher intaktes emotional-motorisches System.


Die Forschergruppe des Max-Planck-Instituts. Von links nach rechts: Lydia Schneider, Marc Vidal, Max Montgomery, Thomas Fritz (Bildquelle: © Thomas Hans Fritz)

Auch im Kleinkindalter ist die emotional-motorische Kontrolle vor der Willkürmotorik entwickelt und gibt dieser quasi Starthilfe. Deshalb gingen wir in unserer Forschung davon aus, dass es in der Rehabilitation ebenfalls ein erfolgversprechender Ansatz sein müsste, die emotional-motorische Kontrolle zu stimulieren, um Willkürmotorik zu regenerieren oder zu regulieren.

Muskelaktivierung über Emotion

Viele unserer Muskeln können durch beide Systeme aktiviert werden, wir sprechen von „dual motor control“. Das emotional-motorische System kontrolliert beim Sprechen die Sprachmelodie, Mimik und Gestik.

Bei einem Lächeln bewegen wir unsere Wangenmuskeln automatisch. Dieselben Wangenmuskeln können wir jedoch auch über die Willkürmotorik aktivieren. Es sei denn, der dafür zuständige Bereich (oder das damit assoziierte Netzwerk) in unserem Kortex ist durch einen Schlaganfall betroffen.

Beim „echten Lächeln“ werden jedoch auch Muskeln aktiviert, die ausschließlich unter emotional-motorischer Kontrolle stehen, wie der äußere untere Augenringmuskel beispielsweise, der nur aktiviert werden kann, wenn ein Lächeln authentisch ist. Daher lässt sich ein Lächeln so schwer vortäuschen.

Für Neurologen ist es ein bekanntes Szenario, dass Patienten nach einem Schlaganfall eine Gesichtshälfte willkürlich nicht mehr ansteuern, in einer emotionalen Situation aber erfolgreich ein Lächeln initiieren können.

Im ganzen Körper

Das emotional-motorische System ist nun nicht nur für die Kontrolle der Dynamik von Sprache und Mimik verantwortlich, sondern für die Kontrolle der Dynamik der Muskelansteuerung im gesamten Körper.


Prof. Fritz zeigt die Funktionsweise der Software (Bildquelle: © Alf Arnold)

Die neuronale Repräsentation der Bewegungsplanung spielt auch für kognitive Funktionen, beispielsweise für die Verarbeitung von Sequenzen von Bildern oder Klängen, eine zentrale Rolle2. Eine gezielte Stimulierung emotional-motorischer Kontrolle bei physiotherapeutischen Interventionen kann also auch Effekte auf kognitive Leistungen haben.

Die Repräsentation der Motorik im Gehirn dient mit als „Taktgeber und innere Uhr“ mentaler Prozesse.

Relevante Ressource aktivieren

Die emotional-motorische Kontrolle kann sowohl sehr schnelle (z. B. Sprachmelodie) als auch sehr langsame motorische Prozesse im Körper steuern. Damit wird klar, dass die Stimulation dieses Systems eine hochrelevante Ressource für die Rehabilitation des Patienten sein kann.

Die emotional-motorische Kontrolle setzen wir ein, wenn wir extrem motiviert sind, wenn wir etwas aus Begeisterung tun. Stimulierend wirken auch soziale Aktivitäten, vor allem, wenn sie Spaß machen und wenn dabei mit Mimik, Gestik und Sprache kommuniziert wird.

Stimulation der emotional-motorischen Kontrolle

Eine bei uns am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften entwickelte und mittlerweile in mehreren Laboren untersuchte Methode emotionaler Stimulation ist das sogenannte Jymmin.

Hiermit können physiotherapeutische Übungen positiver erlebbar gemacht werden, indem man mit der Bewegung selbst musizieren kann. Was ist emotional noch intensiver, als Musik zu hören? Selbst auf der Bühne zu stehen und ein Konzert zu geben.

Verausgabung kombiniert mit Musik

Jymmin ist die Kombination von Ergebnissen zur Euphorie durch alte archaische musikalische Praktiken3 mit neuester neurologischer Forschung zur Steuerung menschlicher Motorik.

Angehörige der Ethnie der Mafa in Kamerun kombinieren körperliche Verausgabung mit Musikmachen und einer Art kontrollierter Hyperventilation durch Flötespielen. So steigern sie systematisch und effizient ihre Stimmung bis hin zur Euphorie3.


Gemeinsames Musikworkout im Max-Planck-Institut (Bildquelle: © Alf Arnold)

Dieses Zusammenspiel aus körperlicher Verausgabung und Musikmachen haben wir übersetzt in eine Therapieform, in der körperliche Verausgabung und Musikmachen mit modernster Musikfeedback-Software kombiniert werden.

Der Trainierende steuert die Musik durch seine Anstrengung und erzeugt so den Soundtrack zu seinem Workout selbst. Der Charakter der Musik „steigt an“, wenn man sich mehr anstrengt, und kommt „mit runter“, wenn man zwischendurch langsamer macht. So kommt es zu einer stärkeren Identifikation der Teilnehmer mit der Musik.

Endorphine

Wir konnten zeigen, dass diese Kombination von körperlicher Verausgabung und Musizieren innerhalb von nur 10 Minuten zu einem messbaren Stimmungshoch führt. Dies ist vermutlich dem „runners high“ sehr ähnlich, für das Läufer eine lange Zeit trainieren müssen4.

Durch die Kombination von Anstrengungserfahrung und Musikmachen können Endorphine besonders effizient ausgeschüttet werden. In einer Studie zur Schmerzwahrnehmung wiesen die Teilnehmer nach Jymmin eine höhere Schmerztoleranz auf. Sie konnten Hand und Unterarm im Durchschnitt fünf Sekunden länger in 1 Grad kaltem Eiswasser lassen5.

Außerdem ergab sich im Vergleich zum Training ohne Musikfeedback, dass ein Jymmin-Training nur als etwa halb so anstrengend empfunden wurde6. Die Teilnehmer bewerteten beim Workout die selbstgesteuerte Musik als schöner, als wenn sie die Musik nicht aktiv steuern konnten.

Dieser Effekt ist als „Band Effect“ bekannt, ein sogenannter „positivity bias“. Dabei geht es um die Reaktion auf das eigene musikalische Handeln, ähnlich dem, wie MusikerInnen einer Band ihren Auftritt erleben7.

Kognitive Leistung und Kreativität

Nach einem einmaligen Jymmin-Training zeigten Teilnehmer mit Schlaganfall temporär bessere Arbeitsgedächtniswerte. Demenzpatienten zeigten nach 5 Tagen Jymmin-Training am darauffolgenden trainingsfreien Tag eine bessere Kurzzeitgedächtnisleistung8.

In einer Studie mit gesunden Teilnehmern stieg das divergente Denken, ein Aspekt der Kreativität, nach einem Jymmin-Training deutlich an. Die Teilnehmer sahen ein Wort und sollten innerhalb von 2 Minuten benennen, was man mit dem Gegenstand alles machen kann.

Im Vergleich zu einem reinen Workout mit passivem Musikhören kamen sie auf ca. dreimal so viele Ideen9. Bei Kindern mit Lernschwierigkeiten sahen wir nach einer Pause mit Jymmin bei computergestützten Lernaufgaben eine höhere Präzision und Geschwindigkeit.

Selbstwirksamkeit

Ein entscheidender Aspekt für die Effizienz dieser Intervention ist eine temporär erhöhte Selbstwirksamkeitserfahrung. Diese Beobachtung haben wir auch bei Patienten im Verlauf ihrer Drogenrehabilitation gemacht. Die Teilnehmer gingen im Anschluss an ein Jymmin-Training eher davon aus, ihr Rehabilitationsziel erreichen zu können10.

Bislang war diese neue Methode nur für Kliniken zugänglich, die mit dem Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig forschten. In einer ersten Kooperation meiner Max-Planck Forschungsgruppe mit der Medica Medizintechnik GmbH verwandeln jetzt Patienten auf dem THERA-Trainer ihr Training in musikalisch aufregende und emotional begeisternde „Reisen“.
 

Bildquelle Header: © Alf Arnold
Textquelle 1: Holstege G, Subramanian HH. Two different motor systems are needed to generate human speech. J Comp Neurol 2016; 524: 1558–77.
Textquelle 2: Schubotz RI, von Cramon DY. Predicting perceptual events activates corresponding motor schemes in lateral premotor cortex: an fMRI study. Neuroimage 2002; 15: 787–96.
Textquelle 3: Fritz T, Jentschke S, Gosselin N, et al. Universal recognition of three basic emotions in music. Current Biology 2009; 19: 573–6.
Textquelle 4: Fritz TH, Halfpaap J, Grahl S, Kirkland A, Villringer A. Musical feedback during exercise machine workout enhances mood. Frontiers in Cognitive Science 2013; 4: 921.
Textquelle 5: Fritz TH, Bowling DL, Contier O, et al. Musical Agency during Physical Exercise Decreases Pain. Frontiers in Psychology 2018; 8. DOI:10.3389/fpsyg.2017.02312.
Textquelle 6: Fritz TH, Hardikar S, Demoucron M, et al. Musical agency reduces perceived exertion during strenuous physical performance. Proceedings of the National Academy of Sciences U S A 2013; 110: 17784–9.
Textquelle 7: Fritz T, Schneider L, Villringer A. The Band Effect – physically strenuous music making increases aesthetic appreciation of music. Frontiers in Neuroscience 2016; 10. DOI:10.3389/fnins.2016.00448.
Textquelle 8: Strong JV, Arnold M, Schneider L, Perschl J, Villringer A, Fritz TH. Enhanced Short-Term Memory Function in Older Adults with Dementia Following Music-Feedback Physical Training: A Pilot Study. Brain Sci 2022; 12: 1260.
Textquelle 9: Fritz TH, Montgomery MA, Busch E, Schneider L, Villringer A. Increasing Divergent Thinking Capabilities With Music-Feedback Exercise. Front Psychol 2020; 11: 578979.
Textquelle 10: Fritz TH, Vogt M, Lederer A, et al. Benefits of listening to a recording of euphoric joint music making in polydrug abusers. Frontiers in Human Neuroscience 2015; 9: 300

Die Autoren

  • Prof. Dr. Thomas Hans Fritz

    Prof. Dr. Thomas Hans Fritz ist Gruppenleiter der Forschungsgruppe Musikevozierte Hirnplastizität, Abt. Neurologie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften.

  • Jan Althoff

    Jan Althoff ist Physiotherapeut, hat einen M.Sc. in Neurorehabilitationsforschung und ist Auditor für Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen. Er sammelte Erfahrung in internationalen Projekten im Bereich Rehabilitation, Entwicklung und Aufbau von Rehaeinrichtungen, Aus- und Weiterbildung von Therapeuten. Im April 2023 übernahm er die Redaktion des Magazins BODYMEDIA Physio.

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