Physiotherapie

Der Therapeut als Verhaltensveränderer

Die Beziehung zwischen Patienten und Therapeuten ist häufig eine innige. Man kommt sich sehr schnell näher und Therapeuten mit offenen Ohren erfahren viel über die Menschen, die zur Behandlung kommen. Im Rahmen dieser Beziehung könnten sie die Patienten bei der Verhaltensveränderung unterstützen. Zumindest mit genug Zeit und dem richtigen Know-how.

In üblichen Ausschreibungen für Physiotherapeuten werden insbesondere zwei Schwerpunkte abgefragt: Behandlung der Patienten und die Befundung sowie Dokumentation der angewendeten Maßnahmen. Was häufig auf einer sprachlichen Ebene nicht ausgesprochen wird, ist die psychologische Komponente der Behandlung. Das zeigt, dass diese zumeist unterschätzt wird. Physiotherapeuten, die sich dieser Komponente bewusst sind, werden durch wissenschaftlichere Ausbildungen immer mehr. Trotzdem sollten die psychologischen Aspekte bei der Behandlung stärker berücksichtigt werden. Denn wer Patienten nachhaltig helfen möchte, und das ist mit Sicherheit der größte Teil der Physiotherapeuten, muss in den meisten Fällen eine Verhaltensveränderung bei diesen anstreben. Der Weg dorthin ist jedoch mit vielen Hindernissen gepflastert: zu wenig Zeit, zu seltene Termine, fehlende Bereitschaft der Patienten, das eigene Verhalten zu hinterfragen, und, und, und.

Selbst Therapeuten, die sich darüber Gedanken machen, wie sie ihre Patienten in Richtung der Verhaltensveränderung bewegen können, scheitern recht schnell an den Verhaltensbarrieren derer, denen sie eigentlich helfen möchten. Denn im Gegensatz zum Fitnessstudio geht man nicht zum Physiotherapeuten, weil man sein Verhalten ändern möchte, sondern weil man muss. Schmerzen, Einschränkungen oder auch der Arzt sind die zwingenden Faktoren, die den Start in die Verhaltensveränderung erst mal erschweren. Dabei wäre der Physiotherapeut durch seine menschennahe Art und sein umfangreiches Know-how bestens in der Lage, die Verhaltensveränderung des Patienten zu begleiten. Dabei dürfte der Moment, in dem der Physiotherapeut die Behandlung startet, der beste sein, um, aus Sicht des Patienten, über eine Veränderung des eigenen Verhaltens bzw. Lebensstils nachzudenken. Sind die Schmerzen erst mal (kurzfristig) behoben, verschwindet der Veränderungswille schnell wieder.  

Das Scheitern eines großen Prozentsatzes ist damit vorprogrammiert. Ihnen fehlt der nötige Wille, die Veränderung zu starten. Eine Wahrheit, die leider von zu vielen einfach hingenommen und akzeptiert wird – klar bei dem Durchlauf, den man als Therapeut hat. Eine Wahrheit aber auch, die von den Patienten nicht hinterfragt wird. 

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Häufig sind Ärzte die Überbringer schlechter gesundheitlicher Nachrichten – damit starten sie den Prozess zur Verhaltensveränderung

Während junge und Menschen mittleren Alters das noch einfacher hinnehmen und froh sind, dass die Schmerzen der Vergangenheit angehören, nur um dann weiterzumachen wie bisher, gibt es eine Zielgruppe, die auf das Know-how und die Betreuung der Therapeuten angewiesen ist: ältere Menschen, Patienten mit chronischen Schmerzen oder anderen Krankheiten, deren Lebensqualität wirklich beeinträchtigt ist  

An fachlichem Know-how fehlt es den meisten Therapeuten nicht. Das Wissen, eine Verhaltensveränderung beim Patienten einzuleiten, hingegen schon. Als Grundlage dafür kann das transtheoretische Modell von James Prochaska und Carlo Di Clemente dienen, das auch als Stufenmodell der Verhaltensveränderung bekannt ist. Die letztgenannte Bezeichnung trifft es dann auch ganz gut. Bei der Verhaltensveränderung werden sechs Stufen durchlaufen. Am Ende soll dann die Termination des alten Verhaltens stehen. Folgende Stufen werden von dem Modell postuliert:

1.    Stufe der Absichtslosigkeit
2.    Stufe der Absichtsbildung
3.    Stufe der Vorbereitung
4.    Stufe des Handlungsstadiums
5.    Stufe des Aufrechterhaltens
6.    Stufe des Abschlusses bzw. der Termination

Während der betroffene Mensch in der ersten Stufe keinerlei Absicht hegt, sein Verhalten anzupassen, kommt es in der Stufe der Absichtsbildung zum Wunsch, etwas zu verändern. Ausgelöst wird das meist durch Schmerzen oder aber dem Besuch beim Arzt. Die meisten Patienten kommen also im zweiten Stadium in die Physiotherapiepraxis. Das ist schon mal ein guter Anfang. In Stufe 3, der Vorbereitungsstufe, geht es um die konkrete Planung, das Verhalten zu verändern, z. B. indem man Maßnahmen zur Linderung der Schmerzen wie z. B. Training einleitet. Leider endet die geplante Verhaltensveränderung hier für viele bereits wieder. Der innere Schweinehund kommt dann doch bei vielen heraus. Zudem lassen die Schmerzen häufig bereits nach, was dazu führt, dass die Motivation zur Veränderung abnimmt. Wer in Stufe 4 ist, vollzieht die Verhaltensveränderung aktiv. Wer den aktiven Wandel schafft, kommt in die Stufe der Aufrechterhaltung. Hier ist es gelungen, die Verhaltensveränderung über einen längeren Zeitraum hinweg zu leben. In der schon genannten Termination wurde das alte Verhalten vollständig abgelegt und das neue ist Bestandteil des Lebens. Der Vollständigkeit halber soll erwähnt sein, dass die Stufe 6 im ursprünglichen Modell von Prochaska und di Clemente nicht enthalten war. Sie wurde später hinzugefügt, als das Modell auf spezielle Verhaltensweisen übertragen wurde, wie z. B. das Thema Bewegung. Man sieht also schon, dass das Modell ganz gezielt auch auf die Themen Training, Bewegung, aber auch Ernährung angewendet wurde. 

Ermöglicht wird das Durchlaufen der Verhaltensveränderung durch Prozesse, die von Emotionen und Kognitionen beeinflusst werden. Das sorgt dafür, dass man nach der Veränderung häufig gar nicht mehr weiß, wieso man das alte Verhalten überhaupt so lange beibehalten hatte. Denn es verändern sich die Gefühle und das Denken gegenüber den alten Verhaltensweisen. Dafür wurden einige Veränderungsprozesse identifiziert, u. a. die Steigerung des Problembewusstseins oder aber die Neubewertung des eigenen Umfelds. 

Das alles trägt dazu bei, dass ein Mensch sein Verhalten verändern kann. Bevor das jedoch passieren kann, muss man von Stufe 1 in Stufe 2 gelangen. Dazu braucht es einen Startimpuls. Nicht selten sind Ärzte die Überbringer einer Nachricht zur Verhaltensveränderung. Geht es um Diabetes, starkes Übergewicht oder Gelenkbeschwerden, sucht man ihren Rat und immer mehr Ärzte empfehlen Bewegung und eine gesunde Ernährung zur Linderung der Beschwerden, anstatt nur ein Rezept für den Therapeuten auszustellen. Kommt der Veränderungswunsch nicht aus einem gesundheitlichen Grund heraus, sondern entsteht eher unter ästhetischen Gesichtspunkten, kommt der Impuls sicherlich aus einer anderen Richtung. Die eigene Wahrnehmung vor dem Spiegel, die Lieblingsjeans, die nicht mehr passt, Äußerungen vom Partner oder den Freunden sind mögliche Startpunkte zum Ergreifen verhaltensverändernder Maßnahmen. Das ist im Bereich der Physiotherapie jedoch eher selten anzutreffen, es sei denn, es gibt einen Selbstzahlerbereich für Nichtpatienten, die präventiv arbeiten möchten oder ein Ambiente suchen, in dem sie für ihre Ästhetik fernab klassischer Fitnessstudiokunden trainieren möchten.

Unabhängig davon, ob der Auslöser medizinischen oder ästhetischen Ursprungs ist, ist den Betroffenen meist schon klar, dass sie irgendetwas tun müssen. Vielen fehlt allerdings das Wissen darüber, was in ihrer Situation gut wäre. Hier können natürlich Ärzte wichtige Aufklärungsarbeit bei ihren Patienten leisten. So werden Diabetespatienten zu Ernährungsberatern geschickt und Menschen mit schmerzenden Gelenken sollen sich mehr bewegen. Wo Mediziner sicherlich noch stärkere Empfehlungen geben könnten, ist im Bereich der Früherkennung bzw. der Unterstützung durch Training und Ernährung bei der Behandlung manifestierter Erkrankungen. So weist Prof. Dr. Karin Meißner von der Hochschule Coburg darauf hin, dass nur etwa 50 % der Patienten über die mittlerweile gut erforschten Wirkungen von gesunder Ernährung und ausreichend Bewegung auf unterschiedliche Krebsarten informiert werden. 

Aber auch die Therapeuten als Fachpersonal sind hier gefragt. Auf der einen Seite sollte man nicht zu sehr in die medizinische Richtung beraten, da die Patienten häufig nicht über ausreichend medizinisches Wissen verfügen, um alles nachvollziehen zu können. Andererseits sollten die Patienten darüber informiert werden, was gut für sie ist. Dabei gilt es als Therapeut den richtigen Ton zu treffen und empathisch zu reagieren. Durch die Nähe des Therapeuten zu seinem Patienten kann das durchaus gelingen. Voraussetzung ist natürlich, dass ein ausreichend langer Zeitraum der Behandlung vorliegt. 

Auch wenn Physiotherapeuten vor allem durch ihr Fachwissen punkten, ist die wichtigste Fähigkeit im Umgang mit den Patienten, Empathie zu zeigen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie mit ihrem Anliegen genau am richtigen Ort sind. Das könnte tatsächlich die größte Hürde sein, denn Empathie zu lernen ist nicht so einfach, und selbst wenn, fällt es jungen Menschen schwer, sich in die Probleme der älteren Generation einzufinden. Daher macht es durchaus Sinn, nicht nur auf junge Therapeuten, sondern auch auf erfahrene Mitarbeiter zu setzen, möglicherweise sogar gezielt ältere Therapeuten einzustellen. Bei komplexeren Krankheitsbildern oder -verläufen kann das Team sich gegenseitig unterstützen und in internen Teamsitzungen sogar einzelne Patienten „besprechen“. Hier sollte man als Therapeut nicht zu stolz sein, alles alleine bewältigen zu wollen, oder andersherum, sein Spezialwissen für sich zu behalten. 

Fazit
Das Berufsbild des Physiotherapeuten ist tatsächlich so bunt, wie man es sich macht. Es wird immer wieder diejenigen geben, die alles behandeln, was ihnen hingelegt wird. Wer sich auf seine Patienten einlässt, die Beziehung sucht, aktiv als Motivator und Geber von Fachwissen agiert, hat mehr Erfolg bei den Patienten. Letztlich geht es darum, das Thema Bewegung und Ernährung und ihre positiven Wirkungen nach vorne zu bringen und ein Bewusstsein in der Gesellschaft zu schaffen.
 

Der Autor

  • Jonathan Schneidemesser

    Seit seinem Germanistik-und Philosophie-Studium in Mannheim arbeitet er für das Fachmagazin BODYMEDIA. 2015 übernahm er nach Abschluss seines BWL-Studiums die Chefredaktion für das Magazin. 2017 etablierte er die BODYMEDIA dann mit einem eigenen Magazin im Physio-Bereich. Seine sportliche Erfahrung sammelte vor allem in seiner aktiven Zeit als 800m-Läufer. In seiner Freizeit joggt er durch den Wald oder schwingt Kettlebells.