Das Wichtigste in Kürze:
- Das neurozentrierte Training konzentriert sich auf die neuronalen Prozesse im Körper, um Bewegung und Schmerz zu verstehen und zu bewältigen.
- Durch die Einbindung verschiedener Sinnesorgane und die Berücksichtigung von äußeren Reizen, inneren Zuständen und Körperpositionen kann das neurozentrierte Training effektiv eingesetzt werden, um eine ganzheitliche Rehabilitation zu ermöglichen und die Therapie individuell anzupassen.
- Es ist wichtig, den Fokus vom biomechanischen Modell hin zum biopsychosozialen Modell zu wechseln, da es eine umfassendere Sichtweise auf Gesundheit und Krankheit bietet.
- Die bewegungsbezogene Selbstwirksamkeit, also das Vertrauen in die eigene Fähigkeit zur Bewegungsausführung, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in der Rehabilitation und Therapie, um Motivation und Engagement zu fördern.
Steigende Anforderungen und Leistungsdruck können zu Überforderung und Stress führen, was wiederum Auswirkungen auf unsere körperliche und psychische Gesundheit hat. Hier setzt das neurozentrierte Training an, ein innovativer Trainingsansatz, der sich auf die neuronalen Prozesse im Körper konzentriert. Durch die Fokussierung auf die Leistungsfähigkeit und die zentrale Bewegungssteuerung im Gehirn sollen die Patienten lernen, Bewegung und Schmerz zu verstehen und zu bewältigen.
Neuroplastizität als Grundlage
Die Grundlage dafür ist Neuroplastizität, also die Fähigkeit des Gehirns, neue Situationen, Verletzungen oder Lernprozesse zu adaptieren und sich zu reorganisieren. Dabei können sich Nervenzellen verändern und neue Verbindungen zwischen ihnen aufbauen oder bestehende Verbindungen verstärken oder abschwächen.
In der neurologischen Rehabilitation spielt die Neuroplastizität eine wichtige Rolle bei der Erholung von Verletzungen oder Erkrankungen des Gehirns. Nach einer Hirnverletzung oder einer neurologischen Erkrankung kann die betroffene Hirnregion oft nicht mehr ihre ursprünglichen Funktionen erfüllen. Die Neuroplastizität ermöglicht jedoch, dass andere Hirnregionen diese Funktionen übernehmen können.
Durch gezielte Therapieansätze und Übungen kann die Neuroplastizität aktiviert und gefördert werden, um die Erholung des Gehirns zu unterstützen. Dies ist insbesondere bei Verletzungen oder Erkrankungen des zentralen Nervensystems wie Schlaganfällen, Parkinson-Krankheit oder traumatischen Hirnverletzungen von entscheidender Bedeutung.
Neurozentriertes Training in der Therapie
Durch die Integration aller eingehenden Informationen, die an das Gehirn gesendet und dort verarbeitet werden, können Zusammenhänge erkannt und Schmerz verstanden und bewältigt werden. Darüber hinaus kann das Training auch in der Rehabilitation nach Verletzungen oder Operationen eingesetzt werden, um eine schnellere und effektivere Regeneration zu ermöglichen.
Luise Walther beim neurozentrierten Training mit einem Klienten (Bildquelle: © Luise Walther)
Neurozentriertes Training ist dabei nicht nur in der klassischen Neurorehabilitation anwendbar, sondern bietet das Potenzial, in allen Bereichen neue Reize
Die Neurologie im Hintergrund
Generell werden alle eingehenden Informationen (Input) durch das Gehirn verarbeitet und integriert, um dann als Bewegungs- oder Schmerzantwort (Output) umgesetzt zu werden. Um das Potenzial optimal zu nutzen, ist es wichtig, die verschiedenen Arten von Input zu berücksichtigen. Zu den bewegungssteuernden Systemen gehören die Exterozeption, die Interozeption und die Propriozeption.
Die Exterozeption bezieht sich auf die Wahrnehmung von äußeren Reizen, die über die Sinnesorgane aufgenommen werden. In der Therapie können dann neben Berührung, Druck oder Temperatur auch Impulse über das Sehen, Hören, Schmecken oder Riechen eingebunden werden. Die Interozeption bezieht sich auf die Wahrnehmung von inneren Zuständen wie Hunger, Durst oder Müdigkeit.
Durch gezieltes Training können Patient:innen lernen, diese Signale besser zu erkennen und darauf zu reagieren, um beispielsweise Überlastung oder Erschöpfung zu vermeiden. Über Achtsamkeits- und Atemübungen kann hier viel Potenzial der Therapie noch gesteigert werden.
Die Propriozeption bezieht sich auf die Wahrnehmung der eigenen Körperposition und Bewegung. Durch gezieltes Training können Patient:innen lernen, ihre Körperhaltung und Bewegungsabläufe zu optimieren und somit Schmerzen zu reduzieren.
Um diese drei Ebenen einzubinden, ist es entscheidend, die Therapie nicht nur auf der Bank stattfinden zu lassen. Stattdessen sollten die Patienten im Alltag lernen, mit dem eigenen
Körper zu arbeiten. Es wird dort angesetzt, wo Bewegung und Schmerzen entstehen: im Gehirn, um Belastbarkeit auf- und auszubauen.
An der ICF orientiert
Betrachtet man die meisten Therapieansätze, liegt der Fokus vornehmlich auf der Propriozeption. Damit gehen aber bis zu 80 % des therapeutischen Potenzials verloren. Genau das ist der spannende Ansatz, nicht nur für die eigene Arbeit, sondern auch für die Betroffenen.
Die Einbindung von mehr Faktoren bietet mehr Spielraum, die Therapie alltagsrelevant und individuell anzupassen. Denn wenn man sich die ICF-Klassifikation anschaut (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit), geht es explizit um die Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Teilhabe sowie Umweltfaktoren. Möglichst viele dieser Faktoren sollten in der Therapie und im Training eingebunden werden.
Vom biomechanischen zum biopsychosozialen Modell
Es ist wichtig, den Fokus vom biomechanischen Modell hin zum biopsychosozialen Modell zu wechseln, da es eine umfassendere Sichtweise auf Gesundheit und Krankheit bietet. Durch die Betrachtung von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren können in der Therapie, Medizin und im Training individuelle Bedürfnisse besser verstanden und somit bessere Behandlungspläne erstellt werden.
Das biopsychosoziale Modell ist ein Ansatz, der die Gesundheit und Krankheit eines Individuums als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren betrachtet. Im Gegensatz zum traditionellen biomechanischen Modell, das sich ausschließlich auf die physischen Aspekte des Körpers konzentriert, berücksichtigt das biopsychosoziale Modell die Bedeutung von Umwelt, sozialen Beziehungen, psychischen Faktoren und Verhaltensweisen.
Ein weiterer Vorteil des biopsychosozialen Modells ist, dass es Betroffene in den Mittelpunkt stellt und ihnen die Verantwortung für die eigene Gesundheit und Genesung gibt. Der Fokus auf die sozialen und psychischen Aspekte betont die Bedeutung von Selbstmanagement, Selbsthilfe und Eigenverantwortung, was zu einer besseren Gesundheitskompetenz und einer besseren Lebensqualität führen kann.
Die Rolle der bewegungsbezogenen Selbstwirksamkeit
Das Vertrauen einer Person in ihre Fähigkeit, Bewegungen und Aktivitäten erfolgreich ausführen zu können, also bewegungsbezogene Selbstwirksamkeit, ist dafür entscheidend. Denn die Überzeugung, dass man in der Lage ist, die körperlichen Fähigkeiten effektiv zu nutzen, sollte immer Ziel der Therapie sein.
Diese Selbstwirksamkeitserwartung ist ein wichtiger Faktor in der Rehabilitation, da sie Einfluss darauf hat, wie motiviert und engagiert eine Person ist, um sich an Therapie- oder Trainingsprogrammen zu beteiligen.
Statt Bewegungsverbote auszusprechen und Belastungsvorschriften zu setzen, die Betroffenen dazu zu ermutigen und zu befähigen, ist es entscheidend, ihre Selbstständigkeit und ihre Fähigkeit zur Teilhabe an ihren sozialen Rollen und Aufgaben zu verbessern.
Und das geht individuell vom Aufstehen aus dem Rollstuhl über das Greifenlernen bis zu individualisierten Trainingsprogrammen, die sich auf Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Beweglichkeit, Koordination und Reaktionsfähigkeit fokussieren.
Die eigene Perspektive erweitern
Gerade in der Therapie können diese Ansätze in die Arbeit einbezogen werden, indem das Verständnis des Nervensystems vertieft wird und der Fokus der Behandlung auf das Üben, das Bereitstellen neuer Informationen und das Geben neuer Impulse gerichtet wird. Eine wichtige Grundlage hierfür ist ein Verständnis der Neuroplastizität.
Neurozentriertes Training bietet hier einen strukturierten Ansatz, der einen Perspektivwechsel auf die eigene Arbeit erlaubt. Die eigenen Erfahrungen und Ansätze mit diesen neuen Impulsen zu verbinden und zu erweitern erlaubt es, Behandlung und Training individueller zu gestalten und nachhaltige Effekte zu erzielen.
Bildquelle: © Luise Walther